Korntal und der Pietismus in Württemberg

In der Welt und doch nicht von der Welt - Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Am 1. Oktober 1818 gewährte der württembergische König Wilhelm I. einer Gruppe von Pietisten unter der Führung von Gottlieb Wilhelm Hoffmann, Notar und Bürgermeister von Leonberg, das Privileg zur Gründung einer Gemeinde, wie es sie bisher im Land nicht gab. In Erwartung der baldigen Wiederkehr Christi wollten die Gemeindemitglieder brüderlich zusammenleben. Die Ordnung der weltlichen und geistlichen Gemeinde sollte auf drei Prinzipien beruhen: demokratische Selbstverwaltung durch die von den Mitgliedern gewählten Vertreter und Vorsteher; Gütergemeinschaft im urchristlichen Sinn nach dem Grundsatz: „Alle für Einen und Einer für alle“; strenge geistlich-soziale Kontrolle der Gemeindemitglieder.

Die Gemeinde wollte nur Mitglieder aufnehmen, die im „wahren und lebendigen Glauben stehen“ und die sich zu einem „streng sittlichen und geordneten Leben verpflichten“. Bei Fehlverhalten drohte als letzte Konsequenz der Ausschluss.

Wie kam es zu dieser Gemeindegründung und welche Bedeutung hat der Pietismus in Korntal und darüber hinaus für Württemberg?

Autorin: Rosemarie Wehling

Der Text von Rosemarie Wehling erschien unter dem Titel „Korntal und der Pietismus in Württemberg“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Pietismus vor dem Hintergrund altwürttembergischer Gegebenheiten

Das alte Württemberg war unter Herzog Christoph (reg. 1550–1568) endgültig lutherisch geworden. Das Land war faktisch adelsfrei und in der Ständeversammlung („Landschaft“) saßen auch Vertreter der Landbevölkerung. Seit dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs wählte die Dorfversammlung die Gemeindeverwaltung, die Leibeigenschaft war kaum mehr von Bedeutung. Unter dem Einfluss der Reformation wurde die elementare Schulbildung flächendeckend eingeführt. Seit 1642/44 war im Zusammenwirken von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit der Kirchenkonvent auf Gemeindeebene die Regelungs- und Kontrollinstanz für Sitte, Ordnung, Schule und Armenfürsorge. Besonders wichtig war die Einschränkung von Festen, „Tanzereien“ und Vergnügungen.

Württemberg war ein rohstoffarmes Land. Die Realteilung führte zur Zersplitterung des Besitzes, der vielfach nicht mehr eine rein bäuerliche Existenz ermöglichte und zum Zu- und Nebenerwerb in Handwerk und Gewerbe zwang. Sozialer Aufstieg über Bildung war für Bauern- und Kleinbürgersöhne kaum möglich, da die bürgerliche Elite der Beamten, Gelehrten und Geistlichen, die „Ehrbarkeit“, faktisch das Monopol für den Zugang zu den Seminaren besaß, die Begabten eine kostenlose Ausbildung garantierten. Die Elite rekrutierte sich im Wesentlichen aus sich selbst. So kann man in Altwürttemberg durchaus von einer Zweiklassengesellschaft sprechen, wobei auch bei den kleinen Leuten eine gewisse Bildung und ein Freiheits- und Selbstbewusstsein vorhanden war, das sich auf die Mitwirkung in der kommunalen Selbstverwaltung stützte. Wirtschaftliche Not und kirchlich-staatliche Disziplinierung hatten für die Entwicklung der sprichwörtlichen württembergischen Tugenden Sittlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit und Ordnungssinn schon den Grundstein gelegt. Der Pietismus konnte einerseits darauf aufbauen und sie andererseits wiederum verstärken.

Speners Ideen und ihre Umsetzung

Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatte sich in den lutherischen Territorien das Kirchenregiment verfestigt. Es ließ wenig Raum für persönliche Frömmigkeit. Der strengen Orthodoxie ging es vor allem um die strikte Beachtung der reinen Lehre. Das reformatorische Prinzip des allgemeinen Priestertums der Gläubigen, der persönlichen Verantwortung vor Gott und eines im Alltag gelebten Glaubens schien vielfach durch die Amtskirche unterdrückt. Der Theologe Philipp Jakob Spener (1635–1705) hat mit seiner 1675 erschienenen Schrift „Pia Desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche“ der Erneuerungsbewegung des Pietismus Namen und Programm gegeben: statt gelehrter Diskussionen gelebte Frömmigkeit, die sich in Bruder- und Nächstenliebe zeigen sollte, statt theologischer Streitschriften Bibelbetrachtung in außergottesdienstlichen erbaulichen Zusammenkünften, in denen nicht nur Theologen, sondern auch Laien zu Wort kommen sollten.

In Württemberg fanden Speners Vorstellungen schnell Anklang, zunächst in Kreisen um den Hof und bei der Ehrbarkeit. Diese waren gleichermaßen empört über den Lebenswandel des Herzogs Eberhard Ludwig (reg. 1693–1733) mit Mätressenwirtschaft und aufwändiger Hofhaltung und der dadurch steigenden Steuerbelastung, wie über den Versuch, die „Landschaft“, die das Recht der Steuerbewilligung hatte, zu entmachten und ein absolutistisches System nach französischem Vorbild einzuführen. Es bildeten sich private Zusammenkünfte (Konventikel oder „Stunden“) mit Gebet und Bibelbetrachtung. Im Alltagsleben unterschieden sich die Pietisten von ihrer Umwelt durch bescheidenere Lebensführung, Lektüre von Bibel und Erbauungsschriften, ständige Selbstreflexion, enge schriftliche und mündliche Kommunikation mit Gleichgesinnten. Nicht nur im Habitus, im Fühlen und Denken, sondern auch in ihren Sozialkontakten, Freundschafts- und Heiratsbeziehungen grenzten sie sich von der „verderbten“ Welt ab.

Zwischen Amtskirche und Separatismus

Die Auswirkungen des Pfälzischen Erbfolgekriegs mit dem Einfall der Franzosen 1693, den Zerstörungen und Kontributionen, belasteten das Land schwer. Sie führten zu einer allgemeinen Krisenstimmung, die auch Bauern und Kleinbürger empfänglich für die religiöse Erneuerung machte. Im Pietismus stand die persönliche Glaubensentscheidung (Bekehrung) und die individuelle Beziehung zu Gott im Zentrum des Glaubenslebens. Damit wurden hierarchisch-obrigkeitliche Strukturen in Frage gestellt: Im Zweifelsfall gebührte dem Wort Gottes der Vorrang vor den Anordnungen der Obrigkeit. Das Elend des Landes erschien als Strafe für gottloses Treiben am Hof, und weil die Amtskirche eng mit dem Herrscher verbunden war, drängten viele aus ihr heraus. Sie wurden zu „Separatisten“, die kirchliche Gottesdienste, Taufe und Abendmahl ablehnten. Sie verstanden sich als „Wiedergeborene“ und erwarteten die baldige Wiederkunft Christi und das Ende der Welt.

Diese institutionenfeindliche Form der Frömmigkeit erschien kirchlicher und weltlicher Obrigkeit gleichermaßen bedrohlich und sie reagierte zwischen 1694 und 1743 mit sieben Reskripten (Verordnungen). Nachdem die Verbotspolitik wenig erfolgreich war, setzte sich schließlich eine gemäßigte Politik durch, die durch innerkirchliche Reformen die Pietisten zurückgewinnen wollte, beispielsweise durch die Einführung der Konfirmation (1721) nach einem zweijährigen Vorbereitungsunterricht. Auch das Versammlungsverbot wurde gelockert.

Die zunehmenden Freiräume und die Tatsache, dass ein Teil der Geistlichen selbst Pietisten waren oder ihnen nahestanden, verhinderten eine dauerhafte Abspaltung der Pietisten von der Amtskirche. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand so die spezifisch württembergische Ausprägung des Pietismus aus der Verbindung zwischen der Bibelauslegung durch die Brüder in den Stunden, einem engen Kommunikationsnetz durch „Unterredungen“ und Konferenzen, Briefe und Schriften sowie der geistig-geistlichen Führung durch Theologen, die auch leitende Funktionen in der Amtskirche ausübten.

Bengels Deutung der Heilsgeschichte

Johann Albrecht Bengel (1687–1752) hat als Prälat, Mitglied der „Landschaft“ und des Konsistoriums (Kirchenleitung) maßgeblich dazu beigetragen, dass „Privaterbauungsversammlungen“ erlaubt wurden. Mit seinem „Gnomon novi testamenti“ (1742), dem Fingerzeig für das neue Testament, schuf er eine auch für Laien zugängliche Verbindung von wissenschaftlicher und erbaulicher Auslegung des Neuen Testaments. Von herausragender Bedeutung für den württembergischen Pietismus war jedoch seine aus der spekulativen Deutung von Zahlen vor allem aus der Offenbarung des Johannes erschlossene Deutung der Heilsgeschichte. Nach einem dramatischen Endkampf zwischen Gott und dem Satan beginne genau am 18. Juni 1836 das Tausendjährige Reich Gottes auf Erden, eine Friedenszeit, in welcher der Tempel in Jerusalem wieder aufgerichtet, Juden und Heiden bekehrt würden und die Menschen brüderlich miteinander lebten.

Darauf folge ein zweites Tausendjähriges Reich, so Bengel, an dessen Anfang die Auferstehung der Gerechten stehe, die dann mit Christus im Himmel regierten. Erst im Jahr 3836, nach einer weiteren Frist der Satansherrschaft auf Erden, folge das Jüngste Gericht mit dem Ende der Welt. Mit dieser chiliastischen (auf das Tausendjährige Reich zielenden) Deutung der Heilsgeschichte stellte sich Bengel in entschiedenen Widerspruch zur Augsburger Konfession von 1530, dem zentralen Bekenntnis der lutherischen Kirchen. Seine Endzeiterwartung hatte jedoch entscheidenden Einfluss auf Laien und pietistische Theologen, wie etwa Philipp Matthäus Hahn (1739– 1790), einen begnadeten Prediger, Erfinder und Konstrukteur, oder Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), der versuchte, Naturwissenschaft und Theologie in seiner Theosophie in Einklang zu bringen.

In Erwartung der Endzeit

Die radikale Veränderung der alten Ordnung durch die Französische Revolution, Terror und Revolutionskriege schienen als Zeichen der Endzeit Bengels Prophezeiungen zu bestätigen. Für viele württembergische Pietisten war Napoleon der „Engel des Abgrunds“, der die Kämpfe verursachte, die dem Ende vorausgehen sollten. Für andere, wie die „Bonapärtler“ in den nordwürttembergischen Dörfern Nordheim und Horrheim und im südwürttembergischen Rottenacker bei Ehingen, war Napoleon ihr Bruder, der für Gleichheit und Freiheit kämpfte. Separatistische Bewegungen hatten Zulauf, vor allem aus den vom sozialen Abstieg bedrohten Gruppen der Handwerker, Weingärtner und Kleinbauern. Bevölkerungswachstum und Missernten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie die Belastungen durch die Revolutionskriege waren Ursachen für eine soziale Krise, die sich besonders in den dicht besiedelten Gebieten im Remstal, im Nordschwarzwald und im Gäu um Herrenberg zeigte.

Um charismatische Anführer sammelten sich radikale pietistische Gruppen, „wilde Separatisten“. In den Augen der Obrigkeit stellten sie die Grundregeln der überkommenen kirchlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung in Frage: Sie besuchten keine kirchlichen Gottesdienste mehr, tauften ihre Kinder selbst, nahmen den Hut vor der Obrigkeit nicht ab, duzten jedermann, zahlten keine Steuern, schickten ihre Kinder nicht zur Schule, trugen revolutionäre Abzeichen (Kokarden oder Sterne), verweigerten den Eid und lehnten den Kriegsdienst ab. Sie forderten Gewissens- und Versammlungsfreiheit, unabhängige Gemeinden mit Gemeinschaftseigentum und die Gemeindeversammlung als oberstes politisches Organ. Sie wollten in der wahren Gemeinde der Gläubigen (nach dem Vorbild der Urgemeinde in der Apostelgeschichte) die nahe Wiederkunft Christi erwarten. Ihre gesellschaftlichen Gegenmodelle nannten sie „Jerusalem“, „Harmonie“ oder „Güldene Zeit“.

Über die Zahl der Separatisten gibt es keine genauen Daten, aber sie erschienen so gefährlich, dass der Staat mit dem „Separatistengesetz“ von 1803 massiv gegen sie vorging. Wer gegen das Gesetz verstieß, musste mit Haft- und Festungsstrafen und dem Entzug der Kinder rechnen. Nach der Verhaftung der Männer übernahmen dann im abseits gelegenen Rottenacker sogar die Frauen die Führungsrolle – ganz im Gegensatz zur traditionellen Dominanz der Männer im württembergischen Pietismus.

Auswanderungen und Zugeständnisse

Für manche Separatisten war die Auswanderung die Rettung aus der Gottlosigkeit der Heimat und vor der staatlichen Repression. Johann Georg Rapp (1757–1847), Leinenweber aus Iptingen bei Maulbronn und charismatischer Prediger, suchte mit einigen hundert Anhängern in Amerika den „Bergungsort“, um in einem „heiligmäßigen“ Leben die Wiederkunft Christi zu erwarten. 1804 gründete er in Pittsburgh seine erste Kolonie „Harmonie“, die ihre Mitglieder auf das Gebot der Ehelosigkeit und der Gütergemeinschaft verpflichtete. Andere Gruppen wollten in Jerusalem die Wiederkunft Christi erwarten. Weil dieses Ziel schwierig zu erreichen war, machten sich viele auf den Weg nach Russland, das näher an Jerusalem zu liegen schien als Württemberg. Außerdem lockten dort auch vielversprechende Ansiedlungsbedingungen.

Zunächst hatte die württembergische Regierung wenig dagegen, widerspenstige Bürger durch Auswanderung loszuwerden. Als aber im durch die Napoleonischen Kriege geschwächten Württemberg in Folge der Hungersnot 1816/17 erneut die „Auswanderungssucht“ anstieg und nicht nur unbequeme Rebellen, sondern tüchtige und angesehene Bürger auswandern wollten, war die Regierung zu Zugeständnissen an die Pietisten bereit. Mit dem Herrscherwechsel von 1816 war auf König Friedrich (1754–1816, reg. seit 1797, König seit 1806), der sein Land im neuabsolutistischen Stil umgestalten wollte, sein reformbereiter Sohn Wilhelm I. (1781–1846) gefolgt.

Auch bei manchen Pietisten hatte sich ein Wandel vollzogen. Johann Michael Hahn (1758–1819), ein Bauernsohn, dessen Glauben sich auf visionäre Erfahrungen („Zentralschauen“) stützte, warnte vor der Auswanderung und bezeichnete die Separatisten als „unartige Brüder“. Er forderte seine zahlreichen Anhänger auf, die Obrigkeit zu respektieren und in persönlicher Frömmigkeit durch ein asketisches Leben die „Vollkommenheit“ zu suchen. Als Maxime für das irdische Leben gab er vor: „Es ist wahr, der Verschwender hat immer bessere Tage bei der Verprassung und Vernachlässigung seines Vermögens, als der, welcher mit Fleiß, Mühe und Arbeit das Seine nicht nur erhalten, sondern vermehren will.“ Als arbeitsame, pflichtbewusste, aber eher lebensunfrohe Fromme erschienen die „Michelianer“ schon ihren kritischen Zeitgenossen als „Gesetzler“ und „Werkler“. Allerdings konnte ihre pietistische Ethik die Verwandtschaft zu den altwürttembergischen Tugenden des „Schaffers“ nicht verleugnen.

Die Frommen im Lande behalten

Als am 28. Februar 1817 Gottlieb Wilhelm Hoffmann (1771– 1846) eine Eingabe an den württembergischen König Wilhelm I. machte, mit der Bitte, den Pietisten im Land einen Ort zu geben, wo sie in autonomer Gestaltung des weltlichen und geistlichen Lebens das Ende der Zeit erwarten könnten, traf dies auf ein offenes Ohr. Hoffmann unterschied drei Gruppen von Auswanderungswilligen: Die Separatisten, die aus religiöser „Schwärmerei“ auswandern wollten, solle man ziehen lassen, da es aussichtslos sei, sie zu halten; die Vermögenslosen, die keine Arbeit haben, denen es aber oft auch an „Fleiß und guter Haushaltung“ fehle, solle man auch ziehen lassen, weil sie „dem Staat nur lästig“ seien. Die dritte Gruppe aber, die Frommen, die sich in „Gewissens-Zwang“ befinden, beispielsweise wegen der Liturgiereform, die nicht der lutherischen Glaubenslehre entspreche, seien ruhige, gewissenhafte, fleißige Leute, oft nicht unvermögend. Sie könne man im Land halten, wenn man ihnen Autonomie gewähre, nach dem Vorbild der Herrnhuter Brüdergemeinde Königsfeld im Schwarzwald.

Nach der Zusicherung einer privilegierten Gründung berief Hoffmann ein „Brüderkollegium“ aus führenden Pietisten ein, denn in der neuen Gemeinde sollten unterschiedliche pietistische Richtungen, die keineswegs immer friedlich miteinander umgegangen waren, in Erwartung der Wiederkunft Christi einträchtig zusammenleben. Am 12. Januar 1819 wurde das rund 300 ha große Rittergut Korntal gekauft, auf Kredit, der bis 1835, also noch vor der erwarteten Wiederkehr des Herrn, zurückgezahlt werden sollte – und auch wurde. Zunächst siedelten sich 68 Familien an. Vorsteher wurde Hoffmann. Die erste Aufgabe war die Erbauung des Betsaals, der in der Rekordzeit von vier Monaten fertiggestellt wurde. Der Innenraum, ohne Altar, Kanzel oder Bilder, trägt bis heute als einzigen Schmuck über der Brüderbank, auf der die Gemeindevorsteher sitzen, die auf die Endzeiterwartung hinweisende Schrift: „Siehe, ich komme bald. Amen, ja komm Herr Jesus.“

Strenge Separation der Pietisten

Die Organisation des Gemeindelebens mit strenger religiös-sozialer Kontrolle (z. B. Verlobung mit Auswärtigen nur mit Zustimmung der Gemeinde), Abgrenzung nach außen, um den Kontakt mit der sündigen Welt möglichst zu vermeiden, und das unterschiedliche Glaubensverständnis der pietistischen Brüder machte das Gemeindeleben nicht immer konfliktfrei. So schrieb zum Beispiel der Gründer Hoffmann in seinen „Fortgesetzten Nachrichten“ an die Freunde und Förderer Korntals: Es „wird sich niemand denken, dass wir den Himmel schon hier haben, das suchen wir nicht, es gibt zu leiden, zu tragen, zu dulden solange wir leben. […] wir erfahren täglich den Streit.“

Sein Sohn Christoph Hoffmann (1815– 1885) sah hingegen in seinen 1881 veröffentlichten Jugenderinnerungen – vielleicht auch aus verklärender Distanz – Korntal als verwirklichte politische Utopie der Herrschaft der Besten: „Man fühlte sich in Korntal wie in einer kleinen Republik, in welcher alles nicht nach bloßem Herkommen, noch nach Geboten irgendeiner auswärtigen Macht, sondern nach freiem Entschluss der weisesten und besten Männer verwaltet wurde.“ Der rechtliche Sonderstatus der Gemeinde dauerte bis zum Beginn der Weimarer Republik. Schon vorher waren einzelne Privilegien abgeschafft worden, weil sie, wie beispielsweise die Einschränkung der Freizügigkeit, nicht mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch zu vereinbaren waren. Länger erhielt sich eine gewisse wirtschaftlich-soziale Autarkie, die auch die Kontakte mit der „sündigen Welt“ aufs Nötigste beschränken sollte: Die Gemeindehandlung, welche die Mitglieder mit preiswerten Gütern des allgemeinen Bedarfs versorgte, bestand bis 1962. Das Gemeindegasthaus, das Beratungen und einer kontrollierten Geselligkeit diente, existiert bis heute.

Korntal wächst über sich hinaus

Korntal war als landwirtschaftlich ausgerichtete Kolonie und nicht als Anstalts- oder Schulgemeinde geplant, aber es zeigte sich sehr schnell, dass ein Bedürfnis für karitative und erzieherische Einrichtungen bestand, die längerfristig auch das wirtschaftliche Überleben sicherten. Nach der Überlieferung war der Gründervater Hoffmann erschüttert vom Elend eines bettelnden fünfjährigen Knaben. Dies führte 1823 zum Bau einer „Rettungsanstalt“ für verwahrloste Kinder, der bald eine „Kleinkinderanstalt“ folgte. Die Anstellung des Lehrers Johannes Kullen (1787–1842) aus der für den württembergischen Pietismus bis heute bedeutsamen Lehrerdynastie aus Hülben auf der Schwäbischen Alb war der Anfang Korntals als Schulort.

Seit 1819 gab es eine Schule für Jungen, ab 1821 auch hauswirtschaftlich ausgerichtete Klassen für Mädchen. Die Schul- und Erziehungseinrichtungen wuchsen rasch. Von auswärts wurden Kinder geschickt, weil in Korntal „Fleiß, Gehorsam, Ordnung“ galten. Zwar solle die Erziehung in erster Linie „Bildung für den Himmel“ sein, aber die Zöglinge müssten auch zu allem angehalten werden, was ihnen „im Leben nützlich oder nötig“ werden könne. Eine „ganze Gemeinde von stillen, fleißigen und geordneten Menschen“ sei durch ihr Beispiel miterziehend. Zudem fehlten in Korntal die „schlechten Eindrücke, die sonst die Gasse und der Lärm des Wirtshauses u. dergl. mit sich führt“, wie der Vorsteher von Korntal, Sixt Karl Kapff (1805–1879), im Jahr 1839 schrieb. Zwar hat die Brüdergemeinde das Gymnasium endgültig 1974 abgegeben, aber sie betreibt bis heute in großem Umfang erzieherische und sozialkaritative Arbeit.

Für die Frommen – und nicht nur in Württemberg – wurde Korntal schon bald zu einem Ort, wohin man pilgerte, von dem man Erbauung und geistliche Führung erwartete. Für die Pietisten sei Korntal, was für die Katholiken Rom. Sie läsen alles, was in Korntal geschrieben werde, die „Korntaler Väter“ seien ihnen fast mehr als den Katholiken der Papst, so umriss Carl Theodor Griesinger (1809–1884) in seinen „Silhouetten aus Schwaben“ 1838 die Bedeutung Korntals.

Der Andrang nach Korntal wurde so stark, dass bald an die Einrichtung einer Tochtergemeinde gedacht wurde. Der König erlaubte 1824 eine Gründung, welche die gleichen Privilegien wie Korntal sowie Grund aus dem Besitz der Hofkammer erhielt. Zum Dank wurde sie nach dem König Wilhelmsdorf genannt. Allerdings lag sie weit entfernt im katholischen Oberschwaben, wo keine „Ansteckung“ der Einheimischen mit dem Virus des chiliastischen Separatismus zu befürchten war. Zudem war das Land sumpfig und unfruchtbar (Pfrunger Ried). Auch nach den intensiven und entbehrungsreichen Entwässerungs- und Meliorationsbemühungen konnte es seine Bewohner nicht ernähren. Erziehung, Pflege und Betreuung waren die einzige Chance, wirtschaftlich zu überleben. Bis heute lebt Wilhelmsdorf von und für Erziehungs- und Sozialarbeit mit Schulen, Betreuungseinrichtungen, Fachkliniken und Fachschulen.

Vom rebellisch-separatistischen zum quietistisch-konservativen Pietismus

Einen tiefen Einschnitt in Korntal und im chiliastisch-eschatologisch ausgerichteten Pietismus überhaupt, brachte die ausgebliebene Wiederkunft Christi im Jahr 1836. Es blieb zwar das Bewusstsein, in der „Endzeit“ zu leben, aber man musste sich neu orientieren, weil man in der Welt, wie sie war, weiter leben musste. Sixt Karl Kapff hat zu dieser Wendung vom rebellisch-separatistischen zum quietistisch-konservativen Pietismus entscheidend beigetragen. Seine Biografie ist zugleich auch ein Beleg dafür, wie in der Folgezeit der Pietismus in die württembergische Landeskirche eingebunden wurde und dort bis heute eine maßgebliche Rolle spielt.

Kapff war in der Umbruchzeit von 1833 bis 1843 geistlicher Vorsteher der Brüdergemeinde. In der Landeskirche machte er eine steile Karriere: Dekan, Prälat und seit 1850 Mitglied der Kirchenleitung. 1848 hatte er als entschiedener Gegner der von ihm als gottlos und materialistisch eingeschätzten Liberalen und Demokraten für die Nationalversammlung kandidiert, später wurde er Mitglied des württembergischen Parlaments. Für seine Verdienste erhielt er 1860 den persönlichen Adel. Als prominenter Vertreter der nun im Pietismus dominierenden konservativ-königstreuen Richtung propagierte er mit Gleichgesinnten eine zweigleisige Aktivität, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kennzeichnend für den Pietismus wurde.

Der "neue" Pietismus

Einerseits sollten die Massen durch die Predigt des Evangeliums bekehrt werden, und dazu wurden nun zunehmend auch moderne Methoden der evangelikalen Verkündigung, wie sie im angelsächsischen Bereich entwickelt worden waren, eingesetzt. Andererseits wollte man durch soziales Engagement in der „Inneren Mission“ auch die gravierenden Probleme der beginnenden Industriegesellschaft im Sinne des Evangeliums lösen und damit dem atheistischen Sozialismus im Kampf um die Menschen ein Gegengewicht bieten.

Das dualistische Weltverständnis, die Trennung der Menschen in Kinder des Lichts und Kinder der Finsternis, blieb aber erhalten. Um die Gläubigen dauerhaft an sich zu binden und auch gegen konkurrierende Gruppen und im innerkirchlichen Bereich Einfluss zu sichern, wurden feste Organisationsstrukturen notwendig. So wurde beispielsweise 1857 die „Altpietistische Gemeinschaft“ gegründet, die bis heute besteht und rund 10000 Mitglieder in Württemberg hat. Ein umfangreiches Publikationswesen entstand: erbauliche und belehrende Schriften, Biografien und Zeitschriften. Der 1834 gegründete Calwer Verlag spielte dabei eine bedeutsame Rolle.

Der chiliastische Pietismus in Württemberg betrieb ursprünglich keine Weltmission, weil man ja unter dem Einfluss der Bengel’schen Zeitberechnung erwartete, dass in dem anbrechenden Tausendjährigen Reich Christus auf der ganzen Welt herrschen und die „Heiden und Juden“ missionieren werde. Da die Wiederkehr Christi nun in einer unbestimmten Zukunft lag, galt es, die Zwischenzeit für die Missionierung der Welt zu nutzen. So entwickelte sich eine enge Bindung von Korntal und dem Altpietismus vor allem an die 1815 gegründete Basler Mission. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandene Neupietismus fand ebenfalls Verbreitung in Württemberg. Er war maßgeblich von angelsächsischen evangelikalen Bewegungen beeinflusst (u. a. dem Methodismus) und entwickelte eigene Organisationsstrukturen und Missionsgesellschaften, die, wie beispielsweise die Liebenzeller Mission, ebenfalls bis heute bestehen.

Politische Aktivitäten

Pietisten waren in Württemberg nur selten direkt politisch aktiv. Die wenigen Ausnahmen standen allerdings in engem Bezug zu Korntal. Christoph Hoffmann, der Sohn des Gründervaters, errang 1848 einen Sitz in der Frankfurter Paulskirche. Dort forderte er die Trennung von Kirche und Staat, weil nur in der Unabhängigkeit die wahren Christen sich auf den eschatologischen Endkampf vorbereiten könnten. Enttäuscht von Politik und Kirche, propagierte er die Auswanderung nach Jerusalem, weil er glaubte, mit der Wiederkunft des Herrn werde von dort die Erneuerung der verderbten Welt durch von Gott auserwählte Deutsche ausgehen. Unter seiner Führung entstand der „Deutsche Tempel“ und zwischen 1868 und 1873 Templerkolonien in Haifa, Jaffa und Jerusalem.

Einen weiteren Versuch, aus dem Pietismus heraus die Welt zu verändern, unternahm Christoph Blumhardt (1842– 1919), der über seine Eltern engen Kontakt zu Korntal hatte. Er wollte das Proletariat für das Christentum gewinnen, der Die Uhr am Betsaal von Wilhelmsdorf zeigt den Ablauf der irdischen Zeit. Die vier Trompetenengel und das Lamm der Apokalypse auf dem Dach sind von den vier kreuzförmig auf den Betsaal hinführenden Straßen aus sichtbar und mahnen, der baldigen Wiederkunft Christi zu gedenken. Sozialismus war dabei ein Instrument für die Vorbereitung der „Gnadenzeit“ des Gottesreiches. Sein Eintritt in die SPD war ein offener Bruch mit dem Bündnis von Thron und Altar. Das Landtagsmandat (1901–1906) gab er bald auf, weil er meinte, ein christliches Reich scheitere am „Felsen des Irdischen“. Dennoch entstand durch ihn an seinem Wirkungsort Bad Boll ein christlicher Sozialismus, dem die Soziale Frage eine Herzensangelegenheit war.

In den Krisenjahren der Weimarer Republik wollten Pietisten aus ganz Deutschland eine Partei auf biblischer Grundlage gründen. Unter der Leitung des Korntaler Lehrers Wilhelm Simpfendörfer (1888–1973) wurde 1927 der Reichsverband des Christlichen Volksdienstes mit Sitz in Korntal gegründet. 1930 stellte die Partei, die sich nun Christlich-Sozialer Volksdienst nannte und ihre Wähler vor allem aus den Freikirchen und der pietistischen Gemeinschaftsbewegung rekrutierte, 14 Reichstagsabgeordnete, unter ihnen die beiden Korntaler Wilhelm Simpfendörfer und Paul Bausch (1895–1981). „Fronterlebnis“ und „deutscher Pietismus“ seien die Wurzeln dieser „Bewegung“, die sich die innere Erneuerung, nationale Befreiung und soziale Neugestaltung des Volkslebens durch das lebendige Christentum zum Ziel gesetzt habe, so Simpfendörfer im Jahr 1930 im Reichstag.

Trotz seiner christlichen Grundhaltung war der „Volksdienst“ kein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus waren Simpfendörfer und Bausch in Württemberg dann entscheidend an der Gründung der CDU als einer überkonfessionellen Partei beteiligt. Die politischen Katastrophen der letzten Jahrzehnte seien durch die Abkehr der von Gott gesetzten Ordnung verursacht. Der neue deutsche Staat dürfe nicht weltanschaulich neutral sein; es sei vielmehr Pflicht eines Christen, dafür zu kämpfen, dass das christliche Sittengesetz das politische Leben in allen Bereichen präge. Beide Politiker hatten über Jahre wichtige (partei-)politische Ämter inne. Simpfendörfer war Landesvorsitzender der CDU, später ihr Ehrenvorsitzender. Von 1946 bis 1960 war er Landtagsabgeordneter, kurzzeitig Kultminister in Württemberg-Baden und nach der Gründung des Südweststaats dessen erster Kultusminister (bis 1958). In Konflikt mit seiner Partei geriet er wegen deren Ostpolitik. 1971 trat er aus der CDU aus.

Pietismus und die politische Kultur des Landes

Seit der Gründung des Landes ist die CDU die stärkste Partei, auch dank ihrer Verankerung in Altwürttemberg und im Großraum Stuttgart. Von Tradition, Sozialstruktur und den sozioökonomischen Gegebenheiten her ist das keineswegs selbstverständlich, war Altwürttemberg doch seit Beginn der Parteienentwicklung ein liberales Land, in dem später auch die SPD und auf der anderen Seite des Parteienspektrums der Bauern- und Weingärtnerbund Fuß fassten, alle mehr oder minder dem evangelischen Milieu nahe. Dass die neu gegründete CDU nicht mehr wie ihre Vorgängerin, das Zentrum, als rein katholische Partei wahrgenommen wurde, obwohl in den Anfängen die Katholiken die Mehrheit in den Führungsgremien besaßen, ist in hohem Maße Politikern wie Bausch und Simpfendörfer zu verdanken. Die evangelikal- pietistischen Anhänger des Christlich-Sozialen Volksdienstes wählten schon bei den ersten Wahlen in Württemberg-Baden die CDU.

Wie viele Pietisten es heute im Lande gibt, weiß man nicht. Schätzungen gehen von einem halben bis zu einem Prozent der Bevölkerung im altwürttembergischen Raum aus. Ihr Anteil und Einfluss bei den aktiven evangelischen Kirchenmitgliedern ist allerdings beträchtlich. So gehören gegenwärtig dem pietistisch-evangelikal geprägten „Gesprächskreis“ der „Lebendigen Gemeinde“ in der Synode der Württembergischen Landeskirche 40 von 90 gewählten Mitgliedern an. Mentalität und Lebensstil sind aber vielfach weit über das pietistische Milieu hinaus noch von seiner Tradition geprägt. Auch wer sich längst nicht mehr zu den bekennenden Pietisten zählt, bringt immer noch ein pietistisches Ethos in sein Tun und Leben ein. Gerade auch bei den für Württemberg so typischen familiengeführten Unternehmen lassen sich dafür zahlreiche Beispiele finden. Das prominenteste davon ist wohl die Familie Leibinger, Inhaber der Maschinenbaufirma Trumpf in Ditzingen.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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