Der Weingartener Blutritt – Was Oberschwaben ausmacht

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Alljährlich, am Freitag nach Christi Himmelfahrt, dem „Blutfreitag“, findet im oberschwäbischen Weingarten der Blutritt statt. Von einem Priester wird eine kostbar gefasste Reliquie aus dem Kloster Weingarten durch die Fluren der Stadt getragen: die Blutreliquie, die der Tradition nach vom Boden Golgathas stammt, der nach dem Lanzenstich des Longinus mit Christi Blut getränkt war. Sie kam im Jahr 1094 aus Mantua an das 1056 gegründete welfische Hauskloster.

Weingarten wurde damit zum Wallfahrtsort. Wohl erst im 15. Jahrhundert entwickelte sich daraus, parallel zur Fußwallfahrt, der Blutritt. Damit besteht er wohl seit mehr als 500 Jahren. Tausende von Reitern – in den letzten Jahren um die 3000 – nehmen daran teil. Selbst wenn der Blutritt verboten war oder nicht stattfinden konnte, riss die Tradition nicht ab. Inoffiziell vollzogen dann vielfach kleine Reitergruppen den Blutritt.

Wie ist dieser Blutritt einzuordnen? Welche Funktionen erfüllt er? Und was sagt er über die ihn tragende Region, über Oberschwaben aus?

Nach oben

Autor: Hans-Georg Wehling

Der Text von Hans-Georg Wehling erschien unter dem Titel „Der Weingartener Blutritt“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

LpB-Shop: Baden-württembergische Einnerungsorte

Nach oben

Der Blutritt ist mehr als ein frommes Ereignis

Zunächst einmal ist der Blutritt ein religiöses Ereignis, ein frommer Brauch, kirchlich gefördert und weiterentwickelt. Höhepunkte erreichte der Blutritt, mit üppiger Ausschmückung, immer dann, wenn das besondere Katholische herausgestellt werden sollte: zuerst in der Barockzeit, im Zeichen der Gegenreformation, als der Blutritt eine feste Form erhielt, mit uniformiertem Gepränge. Die damals neu gebaute großartige barocke Basilika (1715–1725) lässt sich „als eine Art Großreliquiar des Heiligen Bluts“ interpretieren (Hans Ulrich Rudolf).

Einen zweiten Aufschwung erlebte der Blutritt im 19. Jahrhundert, in der Zeit der demonstrativen Frömmigkeit im Rahmen des neuen ultramontanen Selbstverständnisses der katholischen Kirche. Der Blutritt sollte anzeigen, dass Oberschwaben ein gut katholisches Land ist, deutlich unterschieden in seiner Konfessionszugehörigkeit und den damit verbundenen Frömmigkeitsformen von Württemberg, dem die Region im Zuge der napoleonischen Neuordnung zugeschlagen worden ist. Somit stellt der Blutritt zum Zweiten ein Identifikationsereignis und -erlebnis dar: Man bekennt sich zu Religion und Region, auch über die im Alten Reich bestehenden Untergliederungen hinweg.

Seinem Ursprung nach ist der Blutritt zum Dritten ein Öschumritt: ein Brauch, der das umrittene Land von bösen Geistern, höllischen, schädlichen Einflüssen säubern sollte. Die Volkskunde weist darauf hin, dass ursprünglich Schimmel dafür besonders geeignet erschienen, auf deren weißer Haut sich alles Dunkle absetzen konnte. Dazu passt, dass an vier Stationsaltären die Anfänge der vier Evangelien verlesen und die Flur in alle vier Himmelsrichtungen gegen Blitz, Hagel und Ungewitter gesegnet wird.

Nach oben

Der Blutritt als Zeichen des sozialen Standes

Damit verdeutlicht der Blutritt viertens, dass er der Brauch einer Agrargesellschaft ist, zugleich Ausdruck sozialer Rangfolgen, in der man sich über die Hofgröße definiert: Nur wohlhabende Bauern konnten sich Pferde leisten. Sein Selbstbewusstsein zeigt der Blutreiter, indem er seinem Herrgott, wenn auch nicht auf gleicher Augenhöhe, so doch hoch zu Ross gegenübertritt, vornehm mit Frack, Zylinder und weißen Handschuhen. Die Agrargesellschaft Oberschwabens präsentiert sich dabei zugleich als eine patriarchalische Gesellschaft: Frauen sind vom Blutritt ausgeschlossen, bis heute, es sei denn, sie verkleiden sich als Männer, was beim vorgeschriebenen Dresscode nicht so schwer fällt.

Natürlich ist der Blutritt heute, fünftens, längst auch ein touristisches Ereignis geworden, das sich hohen Zulaufs erfreut und auch die Aufmerksamkeit der Medien erlangt. Oberschwaben hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhebliche Zuwanderung, auch von Protestanten, erlebt. Die Konfessionsunterschiede zählen nicht mehr so wie früher, so dass heute die Bürger Weingartens sogar einen Protestanten zum Oberbürgermeister gewählt haben. Schließlich hat auch die Kirchenbindung abgenommen. Frömmigkeit weist längst nicht mehr den Stellenwert von einst auf. Doch auch touristische Attraktionen können Identität stiften und festigen.

Nach oben

Der Blutritt zeigt Oberschwabens Identität

Zusammengefasst zeigt der Blutritt die prägende Macht von Kirche und Bauerntum für Oberschwabens Identität. Der Adel als weiterer grundlegender Bestandteil Oberschwabens ist, wie sich am Blutritt zeigt, eher ein Randphänomen, wenngleich ein einflussreiches, ja mächtiges. Der Adel reitet nicht mit, bekommt aber einen privilegierten Platz: Seine Mitglieder sitzen am Blutfreitag allenfalls im Chorgestühl des Weingartner Münsters, wie andere Honoratioren auch, auf der Tribüne, jedoch kaum auf dem Balkon des Rathauses.

Oberschwaben ist der Prägung nach nicht nur ein katholisches Bauernland. Oberschwaben ist auch ein Städteland, mit einer Fülle ehemaliger Reichsstädte. Sie sind beim Blutritt außen vor. Städte haben andere Feste, über die sie sich definieren, ihre Identität pflegen: so das Biberacher Schützenfest (der „Schützen“) oder das Ravensburger Rutenfest. Auch hier finden Umzüge statt, die die Stadtgeschichte legitimatorisch präsentieren.

Nach oben

Was ist Oberschwaben?

Das Land südlich der Donau ist das Musterbeispiel deutscher Kleinstaaterei im Alten Reich, wie es bis zu den Zeiten Napoleons bestanden hat. Eine Vielzahl geistlicher und weltlicher Territorien umfasste diese „Suevia superior“: Abteien, Stifte, Deutschordensgebiete, Fürstentümer, Grafschaften, ritterschaftliche Gebiete, große und kleine Reichsstädte. Vor allem auch Österreich war hier präsent, von Günzburg im heutigen Bayrisch-Schwaben über Altdorf (Weingarten) reichend, nach Norden bis nach Ehingen und Riedlingen; nach Westen über Villingen im Schwarzwald nach Freiburg mit dem Breisgau, mit Ausläufern in die Ortenau und an den Hochrhein mit Säckingen, Waldshut und Laufenburg bis in das heutige schweizerische Fricktal hinein.

Wie die Finger einer Hand ragte Vorderösterreich durch dieses Land, dafür sorgend, dass diese Gebiete beim „alten Glauben“, also katholisch blieben, gegen die starken reformierten Einflüsse, die aus der nahen Schweiz herüberkamen. Der heilige Nepomuk an den Brücken diente nicht nur dem Hochwasserschutz, er bezeugte auch die Loyalität gegenüber Österreich, das diesen böhmischen Heiligen zu einem „Anti-Hus“ (Hus war der frühe Reformator, der in Konstanz 1415 auf dem Scheiterhaufen endete) und „Nationalheiligen“ aufgebaut hatte. Die Regierung Vorderösterreichs saß in Innsbruck, Schlösser, pompöse Amtssitze hat Österreich in Oberschwaben nicht hinterlassen. Es ist vielmehr die Treue zum katholischen Glauben, die als Vermächtnis Österreichs in Oberschwaben (und darüber hinaus) angesehen werden kann. Nur ein paar Reichsstädte sind hier evangelisch, ferner Einsprengsel wie die ehemaligen württembergischen Gemeinden Pflummern und Rottenacker bei Ehingen sowie das ulmische Wain.

Oberschwaben im heutigen Sinne ist jedoch erst ein Produkt der napoleonischen Neuordnung Deutschlands. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden die geistlichen Territorien aufgehoben und adeligen Herrschaften zugeschlagen, die links des Rheins ihr Territorium an Frankreich verloren hatten (Säkularisation). Das Ziel des Länderschachers bestand vor allem darin, leistungsfähige Mittelstaaten zu schaffen, die in der Lage waren, Napoleon Truppen zu stellen. Von daher kam es dann 1806 zur Mediatisierung der kleineren Territorien: Deren Gebieter verloren ihre Herrschaft, jedoch nicht ihren Besitz.

Nach oben

Die Folgen der napoleonischen Neuordnung Süddeutschlands

Bayern, Baden und Württemberg waren im Süden Deutschlands die Gewinner. Es entstanden neue Mittelstaaten, verbunden mit der Rangerhöhung zum Königreich (Bayern, Württemberg) oder Großherzogtum (Baden). Die Teile, die Bayern sich sichern konnte, hießen künftig Bayrisch-Schwaben; die nunmehr württembergischen Teile hießen Oberschwaben oder auch Oberland, wenngleich traditionell „Oberland“ die Bezeichnung der Gebiete oberhalb der Stuttgarter Weinsteige war.

Somit bezeichnet Oberschwaben seit der Zeit Napoleons das württembergische Gebiet südlich der Donau bis zum Bodensee, westlich der bayrischen und östlich der badischen Grenze. Eine Verengung des Begriffs also, aber eine sinnvolle, weil hier seit nunmehr 200 Jahren Herrschaftsgebiete entstanden sind, die ganz unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt waren. Die Einwohner des einen Gebietes sollten gute Bayern oder Badener werden, die anderen gute Württemberger. Darauf zielten die Integrationsbemühungen der neuen Staaten ab – mit mehr oder weniger Erfolg. Die darunterliegende Schicht der weiter ausgreifenden „Suevia superior“ blieb erhalten, mit Bauerntum, Kirche, Adel und Städten. Die Gebietsgewinne hatten Württemberg verändert, schon rein äußerlich: Nach Fläche und Einwohnerzahl hatte sich das Land verdoppelt.

Bis dahin war das Herzogtum ein geschlossenes protestantisch-lutherisches Gebiet gewesen, adelsfrei, ein Agrarstaat mit einer Sozialstruktur kleiner bäuerlicher Betriebe, im Gefolge der Realteilung als Erbsitte, nach der der gesamte Besitz im Erbfall unter den Geschwistern aufgeteilt wurde. Das hatte zu einer starken Besitz- und Siedlungszersplitterung geführt, die bis heute noch zu sehen ist. Es war somit ein Land mit einer vergleichsweise homogenen Sozialstruktur kleiner Landbesitzer, die zumeist mehr schlecht als recht durch den Tag kamen. Zuverdienst war gesucht, um die wirtschaftliche Lage zu verbessern. Der schwäbische Tüftler hat hier seinen Ursprung.

Nach oben

Die Auswirkungen der Erbteilung

Um angesichts der komplizierten, verschränkten Besitzverhältnisse mit ihrem omnipräsenten Konfliktpotenzial den „Krieg aller gegen alle“ zu verhindern, griff die Obrigkeit massiv disziplinierend und sanktionierend in den Alltag der Menschen ein. Sie machte das Leben fast anstaltsähnlich. Die enge Kooperation mit der staatlich dominierten evangelischen Landeskirche erlaubte zur Außensteuerung die mindestens ebenso wirksame Innensteuerung durch das Gewissen. Kirchliche Abweichung vollzog sich charakteristischerweise in Form des Pietismus, der die (Selbst-)Disziplinierung noch verstärkte. Die obrigkeitliche Disziplinierung erschien so als gottgefällig und mithin legitimiert. Weitgehende Mitspracherechte der Bevölkerung bei der Regierung des Landes über die „Landschaft“, die man aus den Notlagen des Herrschaftshauses errungen hatte, wirkten zusätzlich legitimierend.

Frömmigkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Abscheu vor demonstrativem Konsum konnten erfolgreich dazu beitragen, das Leben erträglicher zu machen, immer auch mit Blick auf den verdienten Lohn im Himmel. Da man nicht besitzlos war und zudem beseelt vom Glauben, in Verantwortung vor Gott sich selbst helfen zu müssen, entstand ein aufstiegsorientierter Individualismus. All das waren auf der einen Seite für die aufkommende Industrialisierung im 19. Jahrhundert geradezu ideale Bedingungen, auf der anderen aber gleichzeitig eine schlechte Ausgangslage für eine organisierte Arbeiterschaft in Form von Gewerkschaften und Sozialdemokratie – das ist bis heute das strukturelle Problem der SPD im Land.

Nach oben

Herrschaft und Landschaft in Oberschwaben

Die neugewonnenen Gebiete Württembergs waren vollkommen anders. Oberschwaben ist nahezu geschlossen katholisch. Insgesamt war somit das neue Königreich beinahe paritätisch protestantisch–katholisch, aber mit sauberer territorialer Trennung, eigentlich bis nach dem Zweiten Weltkrieg, bevor Heimatvertriebene kamen und die zunehmende Mobilität zu einer stärkeren Durchmischung führte, ohne allerdings eine ganz neue Konfessionskarte zu schaffen.

Oberschwaben ist bis heute ein bäuerlich geprägtes Land, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten ein tiefgreifender ökonomischer Wandel vollzogen hat, mit bedeutenden Unternehmen und einer insgesamt sanften Industrialisierung. Ein agrarisches Vorzugsgebiet konnte Oberschwaben sein dank des Anerbenrechts, wonach nur einer den Betrieb übernehmen konnte. Die Geschwister mussten in andere Berufe ausweichen, gingen zu Bahn oder Post, wurden Lehrer, Ärzte, Pfarrer, oder sie gingen ins Kloster. Viele blieben als privilegierte Knechte und Mägde, ehelos, auf dem Hof des Erben.

Die demografischen Verhältnisse blieben deshalb stabil. Es konnte sogar zu Arbeitskräftemangel kommen, der mit Kinderarbeit („Schwabenkinder“ aus Tirol und Vorarlberg) auszugleichen versucht wurde. Ein über Jahrhunderte sich hinziehender Aussiedlungs- und Arrondierungsprozess („Vereinödung“) hatte zudem betriebswirtschaftlich günstige Strukturen geschaffen, die sich auch auf das menschliche Miteinander auswirkten: Auf seinem Einzelhof konnte der Bauer König sein – oder Tyrann, was die Nachbarn nichts anging. Ein Liberalismus des Alltags konnte sich herausbilden: leben und leben lassen. Die Dörfer wurden auf Servicezentren, die zugleich Kommunikationszentren waren, reduziert: mit Kirche, Gasthaus, Rathaus und Schule.

Die kleinen Herrschaftsverhältnisse hatten vor Ort ein spannungsreiches Gegenüber von Herrschaft und Bauern geschaffen, das explodieren konnte (Bauernkrieg von 1525), aber selbst dann wieder in einen institutionalisierten und vertraglich abgesicherten Rahmen zurückfand, in das Gegenüber von Herrschaft und „Landschaft“ (wie die Korporation der Hofbesitzer sich nannte).

Nach oben

Entstehung einer oberschwäbischen Identität

Die neu ins Land gekommene württembergische Beamtenschaft trat gegenüber den neuen Untertanen paternalistisch auf. Ihre Vertreter sahen in diesem Landstrich eher einen „schwarzen Kontinent“, rückständig, mit malerischen Bräuchen wie Fasnacht und Blutritt, ein Land, das es zu missionieren galt, im Sinne des altwürttembergischen „Way of Life“. Die Betroffenen sahen darin einen Angriff auf ihr Wertesystem und ihre Lebensgewohnheiten. Die Folge: Die ehemaligen Untertanen der vielen an sich durchaus heterogenen Herrschaftsgebiete solidarisierten sich, besannen sich auf das Gemeinsame, und das war die katholische Konfessionszugehörigkeit. Unterstützt wurde dies organisatorisch noch durch die Gründung eines eigenen württembergischen Bistums mit Sitz in Rottenburg (1821).

So konnte sich – gegen die neuen Herren in Stuttgart – eine neue gemeinsame oberschwäbische Identität bilden. Als dieser neue Regionalismus in Gestalt der Zentrumspartei sich politisierte, wurde die Stimme für das Zentrum bei Wahlen zugleich ein Bekenntnis zu Religion und Region. Von diesem Erbe hat die CDU bis heute zu profitieren vermocht. Auch hierauf beruht ihre strukturelle Mehrheit in Baden-Württemberg.

Die Entstehung von Oberschwaben als Region, mit eigener Identität, hat eine sich mit der Zeit überlagernde württembergische Identitätsbildung nicht verhindern können – die Überlagerung als typisches Phänomen und als typischer Prozess in der Identitätsbildung, einmal gesamtstaatlich-württembergisch ausgerichtet, einmal regional bestimmt. Damit war die einheitliche „Suevia superior“ durchbrochen, Oberschwaben im heutigen Sinne hatte sein Profil gewonnen.

Nach oben

Eine Sakrallandschaft

Oberschwaben präsentiert sich äußerlich sichtbar als Sakrallandschaft: mit Kirchen, Klöstern, Wallfahrtsstätten, Kapellen und Wegkreuzen, die das Land markieren, als katholisch und barock-gegenreformatorisch. Die katholische Abwehrstrategie gegen den eindringenden Protestantismus setzte auf alle Sinne, um den Kampf um die Seelen zu gewinnen. Aus diesem Geist entstanden die prächtigen Barockkirchen und -klöster, Gesamtkunstwerke aus Architektur, Stuck, Skulpturen, Ausmalungen, verstärkt durch gewaltige Orgeln, prachtvolle Gottesdienste, die durchweg gefeiert wurden, mit kostbaren Gewändern, mit ausgeklügelten Riten, mit Weihrauch.

Die Thematik der Bildprogramme sollte deutlich machen, was die katholische Konfession von der protestantischen unterscheidet: die Realpräsenz Christi im Altarsakrament in Gestalt der Monstranz, die Verehrung Mariens, insbesondere auch deren leibliche Aufnahme in den Himmel, und der Glaube an die heilende Mittlerfunktion der vielen Heiligen. Der kirchliche Barock ist Kunst gewordene Ideologie, wobei beide Wortbestandteile zu betonen sind. Gelegentlich wurden die Protestanten im Bildprogramm direkt angegriffen, wenn, wie in Kißlegg, der an seiner Halskrause erkennbare protestantische Prediger, vom Gnadenstrahl getroffen, mit all seinen Büchern in die Hölle stürzt. Massiver wirkt dieses Bildprogramm in Isny, wo die Klosterkirche St. Georg in unmittelbarer Nähe zur reichsstädtischen protestantischen Nikolaikirche steht. Dort im Turm befindet sich bis heute eine einzigartige Prädikantenbibliothek, die der theologischen (Fort-)Bildung der protestantischen Geistlichkeit diente. Der Bezug war klar.

In der katholischen Friedhofskirche wird dieses Thema noch einmal aufgegriffen, wobei die Menschen in Isny im protestantischen Prediger, der mitsamt seiner Bücher in die Hölle stürzt, die Züge Martin Luthers sehen wollten. Die insgesamt prachtvolle Präsentation des Glaubens in der Kunst wurde ergänzt durch die Pflege der Volksfrömmigkeit mit Heiligenverehrung, Wallfahrten und vielerlei Bräuchen, wozu eben auch der Weingartner Blutritt gehört. Es war so eine Sakrallandschaft entstanden: außen wie im Inneren der Menschen, als Seelenlandschaft.

Nach oben

Bräuche im Wandel der Zeit

Im Zuge der Aufklärung wurden diese Bräuche strikt verboten, wodurch sich die aufgeklärten katholischen Pfarrherren nicht gerade Freunde machten. Die Bräuche waren längst Teil der bäuerlichen Lebenswirklichkeit. Das Hagelläuten, der Wettersegen, die Flurumritte sollten Menschen, Tiere und Ernte vor Schäden bewahren, die Anrufung von Heiligen sollte vor Krankheiten schützen.

Als die katholische Kirche unter dem Trauma der Französischen Revolution – mit ihrer Profanierung von Kirchen, der blutigen Verfolgung von Priestern und Ordensleuten – eine strikte Wende gegen die Moderne vollzog, sich als ultramontaner Kampfverband formierte, quasimilitärisch organisiert, mit der Geistlichkeit als Offizierscorps, den Bischöfen als Generälen und dem Papst als Oberbefehlshaber unangreifbar im fernen Rom jenseits der Alpen („ultra montes“), wurde die Volksfrömmigkeit, wenngleich strikt kontrolliert, reaktiviert und ergänzt. Sie war emotionaler Kitt für eine sich ausbildende katholische Subkultur. So lebten Wallfahrten und auch der Blutritt wieder auf. Er wurde ergänzt durch die Lichterprozession zum Kreuzberg am Abend vorher.

Nach oben

Auch eine Adelslandschaft

Oberschwaben ist auch eine Adelslandschaft, mit alteingesessenen Herrschergeschlechtern wie den Waldburg-Zeil, Waldburg- Wolfegg (und noch weiteren Linien) und den Königsegg. Durch die Säkularisation kamen weitere Adelsgeschlechter ins Land, so die Quadt-Wyckradt und die Thurn und Taxis, die sich hier ausdehnen konnten. Selbst der Landesherr, das Haus Württemberg, wurde – und blieb – in Oberschwaben ansässig: im Deutschordensschloss zu Altshausen und im Priorat Hofen des Klosters Weingarten in Friedrichshafen. Da die durchweg katholischen Adelsfamilien ihre Mediatisierung als grobes Unrecht empfanden, waren sie dem württembergischen Staat und seinen liberalen Beamten gegenüber durchaus feindlich gesonnen, und verständlicherweise auch antiliberal.

Die württembergische Politik musste ein Bündnis zwischen katholischem Adel und katholischer Landbevölkerung fürchten, was die Integration Oberschwabens ernsthaft gefährden konnte. Von daher rührt eine gezielte Gleichbehandlungspolitik von Protestanten und Katholiken, verbunden mit überaus freundlichen Gesten der württembergischen Könige Wilhelm I. und Karl gegenüber dem katholischen Bevölkerungsteil. Ein Kulturkampf wie in Baden konnte so vermieden werden. Für die Politik hilfreich war zudem das Spannungsverhältnis zwischen Adel und Landbevölkerung, die teilweise Unter-Untertanen adeliger Familien war, bis dann im Zuge der Revolution von 1848/49 die Privilegien der Standesherren abgeschafft wurden.

Nach oben

Wirtschaftliche Macht der alten Elite

Im Konflikt zwischen Taktik und Prinzip hatte man sich in Stuttgart dann doch für das Prinzip entschieden: keine (oder fast keine) Privilegien mehr für den Adel. Der Adel konnte so auch in die moderne, sich demokratisierende Gesellschaft hineinwachsen, konnte in der württembergischen Ersten Kammer als Vertreter oberschwäbischer und katholischer Interessen auftreten, was eben ein Stück weit parlamentarische Sozialisation bedeutete. Familienmitglieder des Hauses Waldburg-Zeil übernahmen auch gewählte Mandate – schon in der Revolution, dann im Deutschen Reich –, wobei selbst beim „roten Fürst“ Constantin von Waldburg-Zeil, der in der Paulskirche zur Linken gehörte, noch antiwürttembergische Ressentiments mit im Spiel waren.

Heute sind die Adeligen Oberschwabens längst in die Demokratie hineingewachsen. Von ihrem Herrendasein sind höfisches Zeremoniell und der Besitz von Schlössern geblieben. Ansonsten sind sie eher die „Chefs“ von Familien-Holdings mit zum Teil beachtlichem Besitz, auch jenseits von Land- und Forstwirtschaft. An die Stelle von Herrschaftsmacht ist die ökonomische Macht getreten.

Nach oben

Immer auch schon eine Städtelandschaft

Von den 51 Freien Reichsstädten am Ende des Alten Reichs lagen 25 im heutigen Baden-Württemberg. Sieben davon findet man in Oberschwaben (Biberach, Buchau, Buchhorn/ Friedrichshafen, Isny, Leutkirch, Ravensburg, Wangen), fünf weitere im unmittelbaren Umfeld (Memmingen, Lindau, Ulm, Pfullendorf, Überlingen). Die vorderösterreichischen „Donaustädte“ einschließlich Ehingen hatten annähernd reichsstadtähnlichen Charakter (Mengen, Munderkingen, Riedlingen, Saulgau, Waldsee). Den Reichsstädten wird eine strukturelle Affinität zur Reformation nachgesagt, doch in Oberschwaben sind lediglich Isny und Leutkirch protestantische Reichsstädte – dem Ursprung nach, denn da das Umland katholisch ist, ist die Bevölkerungsmehrheit längst katholisch. Biberach und Ravensburg sind paritätische Reichsstädte, in denen Protestanten und Katholiken gleichberechtigt waren.

Wirtschaftsgeschichtlich gesehen waren und sind die Reichsstädte Wirtschaftsmotoren und kulturelle Zentren, in der Vergangenheit wie auch heute. Hier ist die Bevölkerung wendig und erfindungsreich – und sie weiß zu leben. Längst ist Oberschwaben im Zuge der Industrialisierung ein moderner Wirtschaftsstandort geworden. So zieht sich von Ulm her über Laupheim, Biberach, Bad Waldsee, Weingarten, Ravensburg bis hin nach Friedrichshafen, dabei immer wieder auf die Dörfer und kleinen Städte im Umland (wie z. B. Laupheim, Ochsenhausen, Schwendi) ausgreifend, ein Band wichtiger Industriebetriebe, die nicht selten Global Players sind, mit teilweise hohen Marktanteilen. Attraktiv ist dieses Land geblieben, dank seiner guten Wirtschaftsstruktur, ziemlich gesunden Umwelt und einem hohen Freizeitwert.

Nach oben

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Cookieeinstellungen
X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen auf unseren Websites Cookies. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, eine komfortable Nutzung diese Website zu ermöglichen. Einige Cookies werden ggf. für den Abruf eingebetteter Dienste und Inhalte Dritter (z.B. YouTube) von den jeweiligen Anbietern vorausgesetzt und von diesen gesetzt. Gegebenenfalls werden in diesen Fällen auch personenbezogene Informationen an Dritte übertragen. Bitte entscheiden Sie, welche Kategorien Sie zulassen möchten.