Grenze a. D.: Zum Nachleben von Baden und Württemberg

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Die Grenze zwischen Baden und Württemberg existierte fast anderthalb Jahrhunderte: Bis 1918 trennte sie die durch die napoleonische Neuordnung entstandenen Staaten, das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg.  Seine Gründung 1952, die Entstehung des im folgenden Jahr Baden-Württemberg benannten Landes, setzte die alte Trennlinie außer Kraft. In seinem Aufsatz wirft Hermann Bausinger einen Blick auf die alte Grenze.

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Autor: Hermann Bausinger

Der Text von Hermann Bausinger erschien unter dem Titel „Grenze a.D. Zum Nachleben von Baden und Württemberg“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Wo die Grenze zwischen Baden und Württemberg verlief

In weitem Bogen verlief die Grenze zwischen Baden und Württemberg vom Tauberland ganz im Nordosten bis zur Mitte des nördlichen Schwarzwalds beim Kniebis und weiter ins Donautal bei Tuttlingen; von dort ging es in einer kleinen Ausbuchtung nach Norden und dann in südöstlicher Richtung zum Bodensee. Diese Grenze existierte fast anderthalb Jahrhunderte: Bis 1918 trennte sie die durch die napoleonische Neuordnung entstandenen Staaten, das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg; in der Weimarer Republik blieben die territorialen Grenzen der Länder erhalten, und auch nach der sogenannten Gleichschaltung von 1933 behielt die Grenze eine gewisse Bedeutung, da sich die organisatorische Gliederung der Nationalsozialisten weithin an den früheren Ländern orientierte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Auflösung dieser Raumstruktur, zunächst durch die von den Besatzungsmächten festgelegte Einteilung in eine nördliche (Württemberg-Baden) und zwei südliche staatliche Einheiten (Württemberg-Hohenzollern und Süd-Baden), danach schon wenige Jahre später zur Vereinigung von Baden, Württemberg und dem kleinen Hohenzollern im neuen Südweststaat. Seine Gründung 1952, die Entstehung des im folgenden Jahr Baden-Württemberg benannten Landes, setzte die alte Trennlinie außer Kraft – Grenze ade, Grenze a. D.!

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Die Abkürzung a. D.

Die Abkürzung a. D. – „außer Dienst“ – hätte früher nicht erklärt werden müssen; man fand sie regelmäßig auf Türschildern und sogar auf Grabsteinen. Sie ermöglicht es Beamten, ihre Titel weiterzuführen, nachdem sie aus ihrer Stellung ausgeschieden sind. Manche führen aber nicht nur ihre Titel weiter, sondern auch einen Teil ihrer Dienstgeschäfte. Das kann darin bestehen, dass sie – legal oder auch nicht wirklich legal – weiterhin Diensträume, Dienstwagen oder Dienstpersonal in Anspruch nehmen, oder auch einfach darin, dass sie ihren Büroschlüssel behalten, um gelegentlich dem Nachfolger an die Hand zu gehen, ob dieser will oder nicht. Um einen solchen Überhang geht es auch hier. Um den hinkenden Vergleich mit der Beamtenschaft zurückzulassen: Es geht um die Frage, ob die alte, jetzt schon sechs Jahrzehnte abgeschaffte Landesgrenze und damit die Trennung zwischen Baden und Württemberg noch immer etwas bedeutet, ob sie den Menschen gegenwärtig ist und wie sie dazu stehen.

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Auf der Suche nach der gemeinsamen Geschichte

Dabei ist es sinnvoll, zunächst zu fragen, was die Grenze früher bedeutet hat. Nach der Gründung des Südweststaats neigte man in offiziellen und halboffiziellen Verlautbarungen dazu, die Bedeutung der Grenze herunterzuspielen. Dabei holte man weit aus und zog lang vergangene Geschichtsepochen heran. Schon vor der Diskussion um den Südweststaat gab es Vorschläge, die alemannischen Teile des Südwestens zusammenzufassen, was freilich die nördlichen fränkischen Landesteile und in den meisten Fällen auch den an sich zum Alemannischen gehörenden schwäbischen Teil ausgeschlossen hätte. Besser passte zur Vereinigung von Württemberg und Baden die Berufung auf das Herzogtum Schwaben und die Erinnerung an die weit ausgreifende staufische Herrschaft – bei der großen Stauferausstellung zum 25-jährigen Landesjubiläum 1977 wurde in der Kommentierung diese Kontinuität betont.

Die übergreifende Herrschaftseinheit (die man sich freilich nicht als Flächenstaat vorstellen darf) zerfiel im späten Mittelalter. In der Folge entstanden hunderte von Territorien. Aber auch diese vom Spätmittelalter bis zur Zeit Napoleons andauernde Phase ließ sich als Vorstufe des Südweststaats in Stellung bringen – nicht nur wegen des fortdauernden südwestdeutschen Zusammenhangs in dem durchaus einflussreichen Schwäbischen Reichskreis, sondern auch im Blick auf größere Herrschaftsgebiete, die sich über die drei späteren Länder erstreckten. An vorderster Stelle ist hier das vorderösterreichische Gebiet zu nennen, das einige württembergische Städte und Dörfer an der oberen Donau genauso umfasste wie den Breisgau.

Die durch die Jahrhunderte feststellbaren kulturellen Querverbindungen prägten auch ganz wesentlich das kulturelle Bild. Es mag genügen, auf die großen Dialekträume hinzuweisen, die sich bis heute an den Grenzen der alten Herrschaften orientieren, oder auf die konfessionell geprägten Unterschiede der Kulturlandschaften – der Stempel der Barockzeit ist in Oberschwaben so deutlich wie im südlichen Baden. Aber man kann sich auch auf wirtschaftliche Querverbindungen berufen, und zwar durchaus auch aus der Zeit der schon existierenden Staaten Baden und Württemberg. Als Beispiel mag der 1926 erfolgte Zusammenschluss der Benz-Werke in Gaggenau mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft genügen. Und schließlich demonstrierte die „bessere Gesellschaft“ die Durchlässigkeit der Grenze; man braucht nur an das Badewesen zu denken: Unter den Ausländern in Baden- Baden waren auch Württemberger, und nach Liebenzell und Wildbad kamen auch Badener.

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Die Bedeutung von Grenzen

All das ändert aber nichts daran, dass jene Staatsgrenze auf das Handeln und Denken der Bevölkerung eine starke und vielfältige Wirkung ausübte. Vor dem Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein im Jahr 1836 war der Grenzübertritt ein kleines Abenteuer; der Schmuggel spielte in den Erfahrungen, mehr noch in den Erzählungen der Leute eine Rolle. Die Frage nach der Bedeutung einer Grenze darf aber nicht an dieser selbst hängen bleiben; vielmehr schaffen Grenzen räumliche Einheiten und damit Vorgaben, welche das Leben der Bevölkerung wesentlich bestimmen – Verwaltungs- und Rechtsvorschriften, Arbeits- und Verkehrsbedingungen, aber auch kulturelle Traditionen.

Die meisten Akte der Kommunikation und der Orientierung laufen innerhalb der Grenzen ab. Dies stärkt das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das zudem durch die Regierungen gefördert und auch gefordert wird, in den Zeiten monarchischer Verfassung symbolisch überhöht durch das Herrscherhaus, aber auch in den Republiken propagiert. Was im Blick auf die Bildung der Nationen oft herausgestellt wurde, gilt auch für die Länder, die dank der föderativen Struktur über die Reichsgründung hinaus sehr viel Autonomie bewahrten: Es entstand ein Wir-Gefühl, ein Identitätsbewusstsein, und dieses basierte nicht nur auf dem Geflecht im Innern, sondern auch auf der Abgrenzung nach außen.

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Erinnern und Vergessen

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Abschaffung einer Grenze nicht nur positive Reaktionen auslöst, wobei die Einschätzung selbstverständlich von der jeweiligen Gesamtsituation abhängt. Die Grenze öffnet sich ja nicht zu einem Niemandsland, sondern zu einem neuen staatlichen Gebilde, das seinerseits durch die Tendenz bestimmt ist, in der Bevölkerung ein neues Bewusstsein der Zusammengehörigkeit zu schaffen. Diese Tendenz ist den veränderten Bedingungen immanent, also der Erleichterung des Austauschs etwa durch gemeinsame Institutionen, angefangen beim Parlament; sie bestimmt aber auch maßgeblich die Ziele der Regierung, deren Bestreben es auf vielen Feldern ist, die frühere Trennung vergessen zu machen.

Dabei zeigt sich dann allerdings, dass Vergessen nicht angeordnet werden kann. Erinnern kann bis zu einem gewissen Grad erzwungen werden; bezeugt wird dies durch eine dubiose alte Grenzgeschichte: In manchen Gegenden gab es früher einen Umgang um die Gemeindemarkung, bei dem halbwüchsige Jungen an wichtigen Grenzmarkierungen eine Ohrfeige erhielten, damit sie sich die Stelle einprägten. Für die Schwierigkeit des Vergessens kann dagegen die bekannte Lustspielszene angeführt werden, in der ein Mann mit einem andern wettet, dass der kein Glas Wasser mehr trinken könne, ohne an einen Bären zu denken – und er gewinnt die Wette, weil sich der Bär unweigerlich jedes Mal ins Bild drängt, wenn der Andere zum Trinken ansetzt.

Das Verhältnis von Erinnern und Vergessen steht aber nicht nur unter diesem allgemeineren Gesetz, sondern ist auch abhängig von konkreten Bedingungen. Sie waren für Baden und Württemberg sehr verschieden. In Württemberg sah man in der Vereinigung der Länder und damit in der Abschaffung der Grenze kein großes Problem. Es gab wohl kaum jemanden, der den Zusammenschluss mit Baden als Eingliederung, also gewissermaßen als friedliche Eroberung gesehen hätte; aber man sah in dem Schritt, der ja doch die Teilung entlang der US-amerikanischen und französischen Zonengrenze überwand, eine unproblematische Arrondierung, die dem Südwesten größeres politisches und wirtschaftliches Gewicht in Aussicht stellte.

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Geteilte Meinungen in Baden

In Baden dagegen waren die Meinungen geteilt. Im nördlichen Landesteil überwog die positive Einstellung; insbesondere dort, wo es schon vorher in manchen Bereichen einen Austausch gegeben hatte, sah man neue Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Das schloss allerdings die Sorge um Autonomieverluste nicht aus. Und in Südbaden, das ja seit 1945 als selbstständiger kleiner Staat existiert hatte, überwog das Misstrauen und wurde die Angst vor dauernder Marginalisierung geschürt. Dieser grobe Befund ist nicht das Ergebnis spekulativer Rekonstruktion, sondern er lässt sich belegen (und weiter differenzieren) mit den Ergebnissen der Abstimmung, die über die Bildung des Südweststaats entschied.

Im Blick auf die Grenze a. D. bedeutet dies, dass sie sich in Baden eher in der Erinnerung hielt, während sie in Württemberg sehr viel seltener ein Thema blieb, weil man in der neu geschaffenen politischen Struktur kein Problem sah. Die Erinnerungen an die Grenze, die in der Folge aufgeschlüsselt werden sollen, sind deshalb ganz überwiegend in Baden zu finden – aber meist ist darin nicht von Baden die Rede, sondern von Württemberg und den Württembergern, von denen man sich abgrenzt. Die Abgrenzung bezieht sich vor allem auf wirkliche oder vermeintliche Unterschiede zwischen den früher voneinander getrennten Räumen, also auf mittelbare Folgen der Grenzziehung. Dass die Erinnerung an der konkreten ehemaligen Grenze haftet, ist die Ausnahme – ihr Verlauf ist ja auch über weite Strecken unsichtbar und nur in Abständen durch besondere Markierungen hervorgehoben.

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Musealisierung der Grenze

Diesen Grenzmarkierungen galt freilich schon immer das Interesse der regionalen und lokalen Heimatforschung, und es gibt Anzeichen dafür, dass dieses Interesse mit der Aufhebung der Grenze noch gewachsen ist. Das 50-jährige Jubiläum des neuen Landes Baden-Württemberg im Jahr 2002 wurde verschiedentlich zum Anlass genommen, an den früheren Grenzverlauf zu erinnern und die Aufmerksamkeit auf die noch vorhandenen Grenzzeichen im Gelände zu lenken. Die Kreisstadt Bretten dokumentierte in einer Ausstellung und einem reichhaltigen Begleitheft die früheren Grenzen im engeren und weiteren Umkreis – beginnend mit der von den Alemannen überwundenen römischen Grenze bis hin zu den nachdrücklich herausgestellten neuen Entwicklungen in Verwaltung, Industrie, Verkehr und Touristik, die allesamt nicht an der alten Grenze Halt machen.

Schon im Grußwort des Oberbürgermeisters wurde dieser Akzent gesetzt: „Jahrhunderte hindurch war die Region, die eine natürliche Einheit bildet, durch Landesgrenzen zerrissen.“ Ganz ähnlich wurde die natürliche Einheit bei einem Projekt des benachbarten Enzkreises herausgestellt. Der in Pforzheim herausgegebene Bildband folgt inhaltlich dem Verlauf der früheren Grenze und präsentiert immer wieder alte, noch vorhandene Grenzsteine mit ihren verschiedenen Wappen und Inschriften – teilweise Zeichen für Gemeindegrenzen, die zugleich Landesgrenzen waren, teilweise auch die Symbole für Baden und Württemberg. Aber auch hier verweist das Geleitwort des Landrats auf die Überwindung der Grenze: „Der Enzkreis kann mit Stolz behaupten, ein ‚echter‘ baden-württembergischer Landkreis zu sein, der bei seiner Gründung Teile beider Länder in sich vereinigte."

Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass solche Äußerungen ebenso wie die Projekte selbst auch Appellcharakter hatten. Die Erinnerung an die alte Grenze und ihre Zeichen sollte signalisieren, dass die Zeit der Trennung vorbei ist, dass also die alten Markierungen nur noch museale Bedeutung haben. Mit der Abschaffung der Zollschranken wurden entsprechende Grenzzeichen schon früher zum Museumsgegenstand; das Ende der Landesgrenze wurde in der einen oder anderen Form in manchen Heimatmuseen der früheren Grenzregion zum Thema. Auch die spielerische Vergegenwärtigung der alten Grenzverhältnisse kam vor: Das badische Möhringen ist seit 1973 ein Stadtteil des württembergischen Tuttlingen; aber in der Fastnacht stellte die Möhringer Narrenzunft einmal ein kleines Zollhaus auf und kassierte von den Tuttlinger Besuchern eine Zugangsgebühr.

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Verhaltenskontinuitäten

Grenze a. D. – das ist ein Stichwort, das sich nicht nur auf die Entwicklung seit 1952 beziehen lässt. Auch in früheren historischen Phasen gab es einschneidende politische Veränderungen und auffallende Nachwirkungen nicht mehr existierender Grenzen. Das gilt insbesondere für die früheren Territorialgrenzen, die in den neu entstandenen Ländern nicht mehr galten, ihre Bedeutung aber keineswegs völlig einbüßten. Das Dorf Hirschau ist heute ein Stadtteil von Tübingen, von dem es nur wenige Kilometer entfernt ist. Es gehörte aber bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zur vorderösterreichischen Grafschaft Hohenberg, für die Rottenburg ein wichtiges Zentrum war.

Obwohl diese Stadt kleiner und mehr als doppelt so weit entfernt wie Tübingen ist, orientierten sich die Hirschauer beispielsweise bei Marktgängen und Einkäufen auch weiterhin nach Rottenburg – und teilweise gilt dieser Befund jetzt noch. Lange Zeit war er gestützt durch die Einteilung der Verwaltung; Hirschau gehörte zum Oberamt Rottenburg. Aber vor allem wirkten und wirken kulturell-religiöse Gründe nach; die Territorialgrenze trennte hier wie an vielen anderen Stellen auch die Konfessionen.

Als die baden-württembergische Grenze fiel, waren solche Unterschiede nicht mehr in gleichem Maße ausgeprägt, und in vielen Teilen der Grenzregion zielte die Anfang der 1970er-Jahre durchgeführte Gebietsreform darauf, badische und württembergische Ortschaften in einem Kreis, in manchen Fällen auch in einem Gemeindeverband zusammenzuschließen. Man erhoffte sich von diesem Druckknopfsystem einen schnelleren Ausgleich. Aber man schuf so auch neue Reibungsflächen und Konkurrenzsituationen, die für einige Zeit den alten Gegensatz lebendig hielten, dann allerdings doch mehr und mehr zurücktraten.

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Fortsetzung eingefahrener Gewohnheiten

In der „Doppelstadt“ Villingen-Schwenningen, die eine badische Amtsstadt und ein zur Stadt aufgestiegenes württembergisches Industriedorf vereinigte, dominierte zunächst die Rückbesinnung und die Betonung der Unterschiede, und manche Versuche, Gemeinsamkeit zu installieren, scheiterten. Aber wenn man sich heute ein Bild macht, so entdeckt man zwar immer noch einzelne grelle Farbtöne, aber im Ganzen ist die Harmonie nicht gestört – sie ist allerdings mehr nüchtern kalkuliert als emotional unterbaut. Beide Städte haben nach wie vor ihr Eigenleben, und was am Beispiel Tübingen-Hirschau zu zeigen war, gilt ganz allgemein auch für die auf Kreis- oder Kommunalebene vereinigten badischen und württembergischen Ortschaften: Im Verhalten der Bevölkerung wirken die alten Grenzen nach. Das kann sich auf den Kirchen- und Marktbesuch, aber auch auf Freizeitgewohnheiten oder den Bezug einer bestimmten Tageszeitung beziehen.

Als kurioses, aber aufschlussreiches Beispiel mag die Konstellation auf der Passhöhe Fohrenbühl im Mittleren Schwarzwald angeführt werden. Dort verlief zwischen dem württembergischen Lauterbach (das früher zu Vorderösterreich gehörte) und dem badischen Hornberg (das württembergisch war und 1810 im Tausch an Baden ging) die Landesgrenze. Sie führte mitten durch den verstreuten Weiler und trennte dabei auch zwei Gasthäuser, die nur etwa 30 Meter voneinander entfernt sind. Die Werbung empfiehlt für den ganzen Ort die „badisch-schwäbische Küche“, und für die Touristen spielt der historische Unterschied keine Rolle.

Aber es wird berichtet, dass die Einheimischen aus dem badischen Teil nach wie vor fast nur den „Schwanen“ besuchen, während im „Adler“ die aus dem württembergischen Teil verkehren. Es wäre sicher falsch, dahinter grundsätzlich das Bekenntnis zu den alten Ländern zu suchen – in erster Linie handelt es sich um die Fortsetzung eingefahrener Gewohnheiten. Doch daraus entsteht eine Verdichtung des Kommunikationsgeflechts auf beiden Seiten der alten Grenze, die eben doch die Erinnerung an diese Grenze stützt.

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Demonstrative Abgrenzung

Es gibt aber auch das Bekenntnis und die bewusste Abgrenzung vom anderen Landesteil und seinen Bewohnern. Diese generelle Feststellung muss allerdings schnell halbiert werden: Was sich der Beobachtung aufdrängt, ist das Bekenntnis zu Baden, das sich eine ziemlich kleine Gruppe von Separatisten zum Prinzip gemacht hat, das aber auch in größeren Teilen der badischen Bevölkerung in bestimmten Konstellationen lebendig ist. Voraussetzung ist meistens, dass Badener mit Württembergern konfrontiert sind. Dies kann bei größeren Ereignissen der Fall sein, etwa bei einem Fußballspiel der beiden in den Landesteilen führenden Mannschaften.

Die Fans des VfB Stuttgart zeichnen sich nicht unbedingt durch besondere Friedfertigkeit aus; aber die Anhänger des SC Freiburg verfügen über ein größeres Reservoir von Fertigteilen aggressiver Beschimpfung. Das beginnt mit dem Namen „Schwaben“, der in Baden ganz allgemein auf alle Württemberger gemünzt wird und oft einen pejorativen Beiklang bekommt, und geht weiter mit Spottliedern und plakativen Sprüchen. Der für das ganze Land eingekaufte Werbespruch „Wir können alles. Außer Hochdeutsch“ wird in Baden nicht selten als Plädoyer für die schwäbische Mundart interpretiert, was zu den Gegenparolen „Wir können alles. Auch Hochdeutsch“ oder „Wir können alles. Außer Schwäbisch“ führte.

Bei solchen Events wird oft auch das Badnerlied angestimmt, und zwar mit Vorliebe Textstrophen, die dem inzwischen anderthalb Jahrhunderte alten Lied erst nach der Bildung des neuen Landes Baden-Württemberg angehängt wurden. In ihnen geht es fast immer gegen die Schwaben, denen man keine Dummheit und keinen Makel erspart:

In Sipplingen ist das Seepumpwerk,
Da kommt das Wasser raus.
Mir Badner seiche fröhlich nei,
Und Schwabe saufet’s aus.

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Sprüche, Lieder, Witze - Formen der Auseinandersetzung

Ein Schwabenlied mit vergleichbaren antibadischen Varianten gibt es bezeichnenderweise nicht. Allerdings wird manchmal – nicht in Fußballstadien, aber bei feierlichen Anlässen und vor allem in locker gehobener Stimmung – Preisend mit viel schönen Reden als traditionelles Bekenntnis zu Württemberg angestimmt. Und da es auch ein Hohenzollernlied gibt, war das in den 1980er-Jahren von Regierungsmitgliedern und den Rundfunkanstalten betriebene Unterfangen, eine Art Landeshymne zu kreieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt, ganz abgesehen davon, dass der Wettbewerb zwar viele, aber nur dürftige Einsendungen brachte.

Zur Aktivierung des Schwabenspotts braucht es aber nicht unbedingt große Szenerien. Wenn Badener an benachbarten Wirtshaustischen schwäbische Töne hören oder auch wenn nur irgendwie die Rede auf die östlichen Nachbarn kommt, kann das ein Anlass für eine lange Sequenz von Schwabenwitzen sein, die – manchmal feinsinnig, aber meistens eher grob – den Schwaben allerlei Mängel andichten. Die so attackierten Schwaben haben zwar auch manchen Gegenspott parat; aber wiederum ist festzuhalten, dass es die entsprechende Parallele, also Badenerwitze, als feste Bezeichnung und als regelrechte Erzählgattung nicht gibt.

Sprüche, Lieder, Witze – das sind ausgeprägte Formen der Auseinandersetzung. Aber auch hinter ganz unauffälligen Äußerungen kann eine Tendenz zur Abgrenzung stehen. In den alemannischen Mundarten ist die Verkleinerungssilbe „-li“, in den schwäbischen „-le“; und es gibt eine Übergangszone, in der man beides hören kann. Dies war im Umkreis von Villingen-Schwenningen der Fall.

Nach der Vereinigung, die dort ja unmittelbar die beiden Städte betraf, beobachtete man eine präzisere Trennung: In Villingen galt nun fast uneingeschränkt das „-li“. Und bei einer Dialektuntersuchung im nördlichen Schwarzwald stellte man fest, dass sich Dialektgrenzen, die früher unabhängig von der Landesgrenze verlaufen waren, jetzt mit dieser decken. Im alltäglichen Reden wird also eine Abgrenzung vorgenommen, die es vorher so nicht gab.

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Kontrastive Charakterologie

Die große Spannweite der Schwabenwitze wurde schon erwähnt. Sie kommen manchmal plump und böse daher:

Warum tragen so viele Schwaben einen Mittelscheitel? – Damit wir (die Badener) die Axt besser ansetzen können.

Manche sind aber auch raffiniert gestrickt:

In einem Freiburger Lokal setzt sich ein Einheimischer, weil er sonst keinen Platz findet, zu einem Schwaben an den Tisch. Er grüßt, wünscht guten Appetit, versucht ein Gespräch zu beginnen – der Schwabe schweigt grimmig. Als eine Frau von der Caritas mit einer Sammelbüchse kommt und um eine Spende bittet, wirft der Badener ein paar größere Münzen ein. Die Frau wendet sich dann an den Schwaben, aber der wehrt ab: „Mir g’höret z’samme!“

Das ist recht hintergründig, denn im Ausspruch des Schwaben steckt ja gewissermaßen die Wahrheit, dass Badener und Schwaben wirklich zusammengehören; vor allem aber wird über die Pointe ein Charakterzug des und damit auch der Schwaben anvisiert.

Wenn Schwaben verspottet, aber auch wenn sie ernsthaft porträtiert werden, taucht der Charakterzug einer bis zum Geiz gesteigerten Sparsamkeit immer wieder auf. Die Frage, ob es sich um einen vermeintlichen oder einen wirklichen Charakterzug handelt, erlaubt keine eindeutige Antwort. Im Rahmen des schon erwähnten Pforzheimer Projekts untersuchte der Kreisarchivar Konstantin Huber, was um 1850 herum in den württembergischen Oberamtsbeschreibungen und in den badischen Visitationsprotokollen der Oberamtmänner über die Bewohner der Ortschaften auf beiden Seiten der Grenze geschrieben wurde. Das Ergebnis war, dass Mentalitätsgegensätze kaum nachweisbar sind.

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Kontrastbilder durch Vereinigung

Ganz sicher handelt es sich bei der einseitigen Zuweisung übertriebener Sparsamkeit an die Schwaben um ein Klischee, aber ebenso sicher ist "etwas dran" - wie bei den meisten Klischees. Ein gewisser Unterschied zwischen Badenern und Württembergern in diesem Punkt lässt sich weniger entlang der Grenze festmachen, wo ja ähnliche klimatische und wirtschaftliche Beziehungen herrschten. Aber es lässt sich ein Gegensatz konstatieren zwischen dem kargen, auf jeden Grashalm angewiesenen Leben im Altwürttembergischen und den großzügigeren Möglichkeiten vor alle in der Rheinebene. Und für das alte Württemberg kann auch die puritanische Gesinnung herangezogen werden, die den Bürgern und Bauern über ein strenges Kirchenregiment eingepflanzt wurde.

Der Unterschied hängt also eigentlich an größeren Teilregionen der alten Länder, und man wird unterstellen dürfen, dass sie sich inzwischen abgeschliffen hat durch neue Wirtrschaftsstrukturen, durch die verbreitete Konsumhaltung und auch durch den Zuzug von Menschen aus anderen Landschaften und Nationen. Trotzdem aber werden immer wieder munter kontrastive Charakterologien entworfen. Die Schwaben sind dann meistens eng und streng in ihrer Gesinnung, abweisend und mürrisch in ihrem Verhalten, die Badener offen und heiter, umgänglich und freundlich. Manchmal werden Beweise angeführt wie die ungleiche Verteilung von kulinarischen Auszeichnungen - aber ein nüchterner Blick wird überwiegend Gemeinsamkeiten entdecken. Nur: Dieser nüchterne Blick scheint nicht gefragt, sondern das einprägsame Kontrastbild. Und zwar nicht trotz der Vereinigung der Länder, sondern eher wegen dieser Vereinigung.

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Konflikt und Konfliktvermeidung

Dass man in Baden sehr viel kritischer auf Württemberg blickt als umgekehrt, lässt sich aus Benachteiligungen herleiten, die ein badisches Trauma erzeugten. Man kann dafür historische Gründe anführen: Großherzogtum und nicht Königreich; das Scheitern der Revolution von 1848/49, die nicht zuletzt eine badische Revolution war; die Verlagerung der Wirtschaftskraft von dem früheren Musterland Baden auf Württemberg durch die Folgen der Kriege. Vor allem aber gab es Kränkungen im Zuge der Bildung des neuen Landes: Bei der entscheidenden Abstimmung wurde die Mehrheit negativer Stimmen in Südbaden ignoriert und Baden verlor eine ganze Reihe zentraler Funktionen, angefangen mit Regierung und Parlament, die es in Karlsruhe gegeben hatte.

Die Exponenten des neu gegründeten Landes waren sich dieser Situation allerdings bewusst und versuchten gegenzusteuern. Nicht alle Landesbehörden wurden in Stuttgart eingerichtet, Zentren der Wissenschaft und Kultur entstanden in den badischen Großstädten, und vor allem wurde bei der Besetzung von Führungspositionen auf ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Landesteilen geachtet. Wenn man die Zusammensetzung von Regierung und Parlament während der vergangenen Jahrzehnte überprüft, wird man sagen dürfen, dass „die Waage im Kopf “ der Entscheidungsträger gut funktionierte.

Die Konflikte sind seltener geworden, aber die notwendige Konfliktvermeidung hält die Erinnerung an die Trennung wach. Die Frage gerechter Verteilung blieb ein Thema. Die Tendenz zur Fusionierung – in der Verwaltung ebenso wie in der Wirtschaft – führte in vielen Bereichen zur Vergrößerung und Stärkung eines Standorts und zur Schwächung oder Beseitigung eines andern. Wo Entscheidungen dieser Art anstanden, wurde fast regelmäßig die „Badenfrage“ aufgeworfen. Konkret hieß das: Wo ist der künftige Standort und wer wird der Chef?

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Verteilungsprobleme

Auch die Verteilung und Investition von Landesmitteln wurde und wird genau verfolgt. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Zentrum-Peripherie-Konflikte. Der Ausbau der Messehallen bei Stuttgart wurde in Ulm und Friedrichshafen so skeptisch beobachtet wie in Karlsruhe und Sinsheim; aber in den badischen Orten bot sich die Projektionsfläche Württemberg kontra Baden an. Und das Megaprojekt des Stuttgarter Bahnhofumbaus gibt den Nutzern württembergischer Regionalverbindungen ebenso zu denken wie denen der Rheintalbahn; aber dort liegt der Gedanke einer Benachteiligung Badens nahe.

Dieses Interpretationsmuster wirkt entlang der ehemaligen Grenze natürlich auch im Kleinen. Im Landkreis Heilbronn verlagerte der Landrat einige Zeit sein Besuchsprogramm fast ganz in die früheren badischen Orte, und dem Badnerlied wurde dort bei Veranstaltungen manchmal eine schwabenfreundliche Strophe angehängt – und doch kam es vor, dass bei der Entscheidung über die Kandidatur von Abgeordneten das Baden-Argument aufgefahren wurde. Ähnliche Beobachtungen konnte man fast überall machen, wo die neuen Verwaltungsgrenzen die Kooperation badischer und württembergischer Teile notwendig machen.

Manchmal spielt dabei allerdings auch eine Rolle, dass es nach wie vor getrennte Institutionen gibt – dass also beispielsweise in Villingen-Schwenningen zwei Landessportverbände die Vereine und ihre Aktivitäten trennen. Die Verbände berufen sich auf die unterschiedlichen Traditionen, aber der Hauptgrund für das Fortbestehen dürfte in den Gratifikationen liegen, die innerhalb der Verbände vergeben werden. Bei der Feier des 50-jährigen Bestehens des Württembergischen Landessportverbands sprachen sich mehrere Redner für eine Vereinigung mit den badischen Verbänden aus. Am Ende aber wünschte ein badischer Funktionär dem württembergischen Verband alles Gute – für die nächsten 50 Jahre.

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Ausgleich

Wo es zu Auseinandersetzungen kommt, wird dies von den Medien bereitwillig aufgenommen; Konflikte sind nun einmal interessanter als der friedliche Gang der Dinge. Dies ist zu bedenken, wenn nach dem Gewicht der Gegensätze zwischen Badenern und Württembergern gefragt wird. Die ganz überwiegende Zahl der Leute nimmt die Konfliktberichte nur kurz zur Kenntnis, schert sich aber nicht weiter darum. Das muss kein Ausdruck von Apathie und keine Folge von Politikverdrossenheit sein; dahinter steht oft auch die realistische Einschätzung, dass es sich bei der Frontstellung Baden gegen Württemberg um Schnee von gestern handelt.

Das alte Landesbewusstsein ist nicht abgelöst worden durch eine starke emotionale Bindung an Baden-Württemberg; aber auf einer sachlichen Ebene identifizieren sich die Menschen doch mit dem neuen, größeren Land und seiner Bonität. Wie man in Europa – zumindest in optimistischer Perspektive – eine gewisse Denationalisierung feststellen kann, so lässt sich in dem noch jungen Bindestrichland eine Veränderung des früheren Identitätsgefüges beobachten.

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Offene Grenzen

Das heißt nicht, dass die alten Zugehörigkeiten vergessen sind. Das bezeugt, um dieses Beispiel noch einmal anzuführen, die Flut der Schwabenwitze. Sie sind ein Ausdruck des noch lebendigen Gefühls, dass man die Regionen westlich und östlich der alten Grenze nicht in einen Topf werfen sollte, und sie halten dieses Gefühl wach. Aber es ist in aller Regel ein nicht sehr tief gehendes Gefühl. Dazu tragen auch die vagierenden Identitätsbezüge bei, die sich für die Menschen aus ihrer mobiler gewordenen Orientierung ergeben.

Die Erinnerung ist noch da – aber sie ist leichter geworden, spielerisch oft und nicht zementiert. Zwischen dem württembergischen Birkenfeld und dem badischen Dietlingen steht die „Grenzsägmühle“, an der Stelle einer alten Ölmühle errichtet. Die Kundschaft kam von beiden Seiten der Grenze. Das ist noch immer so, aber es handelt sich um die Kundschaft von großen Musikveranstaltungen. Die laufen schon einmal unter dem Motto „Live at the Grenz“ – man weiß, wo man sich befindet, aber „the Grenz“ ist offen, weltoffen sogar, was nicht zuletzt durch den sprachlichen Mischmasch signalisiert wird.

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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