Baden-Baden – Die „kleine Weltstadt“

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Im Unterschied zu anderen bekannten Bade- und Kurorten des 19. Jahrhunderts – Marienbad, Spa, Brighton, Gastein oder Vichy – wird allein Baden-Baden zum Markenzeichen und Mythos. Die Stadt – erst seit 1931 mit dem charakteristischen Doppelnamen geadelt – gilt inzwischen als Synonym für Badeorte der eleganten Welt schlechthin. Immer geht es dabei um mehr als nur um den Konversations- und Erholungsort der Mächtigen und Reichen.

Der Name steht mehr als jedes andere deutsche Bad – ob Bad Ems, Bad Homburg, Bad Kissingen, Bad Reichenhall oder Bad Godesberg – für Luxus, Muße, Spiel, aber auch für Mäzenatentum, Kultur und hin und wieder auch für Politik.

Autor: Peter Steinbach

Der Text von Peter Steinbach erschien unter dem Titel „Baden-Baden – Die kleine Weltstadt``“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Politische und kulturelle Medienereignisse

Manchmal finden politische und kulturelle Medienereignisse statt – eine wegweisende Kunstausstellung im Museum Frieder Burda, die spektakuläre Inszenierung einer Oper oder die Verpflichtung der Berliner Philharmoniker für die Baden-Badener Frühjahrsfestspiele. Konkurrenz bestimmt das Selbstbild der Stadt mit: Eine neue Wagner-Inszenierung, die positiver aufgenommen wird als eine Uraufführung in Bayreuth, wird innerlich bejubelt. Ein erfolgreicher Schachzug gegen die Salzburger Festspiele – das ist es, was oftmals zählt. Manche Medienereignisse, Meetings und Bälle sind allerdings künstlich inszeniert und spiegeln dann eine Schnelllebigkeit, die eigentlich nicht zur Stadt passt.

Besonders positiv und auch nachhaltig wird das Bild aber durch politische und diplomatische Ereignisse geprägt, etwa den NATO-Gipfel anlässlich des 60. Gründungstages der Nordatlantischen Verteidigungsorganisation im Jahr 2009. Dass sich hier in der Mitte des 19. Jahrhunderts einfach der französische Kaiser Napoleon III. mit deutschen Fürsten, 1962 Charles de Gaulle und Konrad Adenauer und viel später auch einmal Jaques Chirac und Gerhard Schröder trafen, ist fast so vergessen wie die Tatsache, dass der gestürzte ägyptische Staatspräsident Husni Mubarak hier einst kurte und den Luxus von „Brenners Park-Hotel“ nutzte.

Stadttheater Baden-Baden: die Stadt – eine Bühne

Baden-Baden lag immer im Windschatten der ganz großen Politik. Das zeigte sich, als 1797/99 in Rastatt ein Kongress tagte, der der europäischen Politik neue Konturen geben sollte. Die Diplomaten kamen nach Baden, um sich zu erholen und abzulenken, nicht um zu verhandeln. Deshalb war es besonders auffällig, wenn die Stadt unmittelbar zur politischen Bühne wurde. Spielbank, Bäder, Kurhäuser bestimmen das Bild. Neben den Hotels, die sich an der Oos aufreihen und zur Trinkhalle orientiert sind, die bereits in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts als Wandelhalle geschaffen wurde, wurden Reitwege und Parks angelegt, die vor allem ermöglichten, zu sehen und gesehen zu werden.

Das teilweise erhaltene Stadtbild des 19. Jahrhunderts ist auch das Ergebnis eines bewusst gestalteten Ausbaus der Hotel- und Kuranlagen längs der Oos, die wir vor allem Friedrich Weinbrenner (1766–1826) verdanken. Er hat mit dem Konversationshaus (1821–1824) und dem Kurgarten einen sehr wichtigen, frühen städtebaulichen Akzent gesetzt und so die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die kleine Stadt im 19. Jahrhundert eine große internationale Reputation erreichen konnte.

Richard Wagner hat überlegt, seinen Traum von regelmäßigen Festspielen in Baden-Baden zu realisieren, ehe er die Unterstützung des bayerischen Königs Ludwig II. fand. Ob das großherzogliche Haus, das zu dieser Zeit schon längst an anderem Ort residierte, die Visionen und Imaginationen eines stets finanziell klammen Künstlers wie Richard Wagner finanziert hätte, ist allerdings mehr als fraglich. Denn so bedeutend Baden-Baden als Sommerfrische war, so unbestreitbar ist, dass die Stadt damals längst im Schatten anderer regionaler Metropolen der Kunst lag, wie beispielsweise Mannheim mit dem Nationaltheater und Karlsruhe mit dem Landestheater, das heute als Staatstheater fungiert.

Mäzenatentum und Stadtentwicklung

Entscheidend für die Entwicklung der Stadt war das bürgerschaftliche Engagement. Ohne private Förderung keine Kunsthalle (1909), keine Stourdza-Kapelle (von Leo von Klenze 1864–1866), kein Festspielhaus (1998) und keine Merkur- Bahn (1913). Gewiss war Mäzenatentum niemals selbstlos, denn ebenso wichtig wie das geförderte Vorhaben waren Nebeneffekte der demonstrierten Großzügigkeit für die örtliche Entwicklung. Überdeutlich wurde das an der Förderung der Pferderennbahn in Iffezheim, wo 1858 das erste internationale Pferderennen stattfand und natürlich auch gewettet werden konnte. Private Investitionen in das Kurhaus, in die Spielbank oder in die Trinkhalle förderten die Attraktivität des Orts und zogen immer neue Gäste an, luden sie ein, sich dauerhaft niederzulassen, repräsentative Villen zu errichten oder in das Hotelwesen zu investieren. Private Aktivitäten wirkten sich positiv auf die städtischen Finanzen aus, zogen Gäste und später Touristen an und ermöglichten luxuriöse Gesellschaftsparcours wie die Lichtentaler Allee, die Gönneranlage (1909–1912) und die Wasserspiele „Paradies“ am Annaberg (1922–1925).

Damit ist ein bis heute sichtbares und wirkungsvolles Charakteristikum der Stadt angedeutet: das bürgerschaftliche Engagement. Das heutige Festspielhaus, das Museum Frieder Burda, das neue Museum für Technik und Kunst des 19. Jahrhunderts und das Stadtmuseum verdanken ihre Strahlkraft bürgerschaftlich-mäzenatischem Engagement. Das Brahms-Haus, in dem der Komponist oftmals Quartier nahm, lässt sich nur durch privates Engagement bewahren. Immer war in der Geschichte der Stadt das finanzielle Engagement der Bewohner und Gäste gefordert, denn die Staatsverwaltung des Großherzogtums konzentrierte sich auf die Förderung der Universitäten Freiburg und Heidelberg und der ersten modernen Technischen Hochschule, die seit 1825 in Karlsruhe entstanden war, auf das Verkehrswesen und die Begradigung des Rheins. Auch die benachbarten Residenzen, darunter Rastatt, waren prunkvoller als das Badener Neue Schloss, das vor wenigen Jahren geradezu ausgebeint wurde und nun in ein Luxushotel umgebaut wird.

Vielleicht war dieser Pragmatismus, der zuweilen auch zerstörerisch wirkte und vor allem in den 1960er-Jahren tiefe Eingriffe in die historische Bausubstanz brachte, die Kehrseite einer Verzauberung, die Reinhold Schneider in seiner melancholischen Beschreibung der Epoche versuchte, als er die Zerstörung seines Vaterhauses in seinen Aufzeichnungen mit dem Titel "Der Balkon" beschrieb. Er lenkte den Blick auf den über dem Eingang des Hotels "Messmer" gelegenen Austritt, der zu dem Zimmer gehörte, das der preußische König und spätere deutsche Kaiser Wilhelm I. viele Jahre bezog.

Umbrüche, Einbrüche, Kontinuitäten und Neuanfänge

Baden-Badens Geschichte war ein langer Weg, der sich über 2000 Jahre hinzog. Entstanden aus römischen Anfängen, wurde Baden im 13. Jahrhundert zum Wohnsitz einer kleinen Dynastie, der wohl niemand eine jahrhundertelange Zukunft vorausgesagt hätte. In der frühen Neuzeit mutierte Baden zu einem Badeort, in dem es durchaus „liederlich“ zugehen konnte, ehe der „Prozess der Zivilisation“ (Norbert Elias) einsetzte, ehe die Stadt dann im 19. Jahrhundert ihr großes Rad – das Glücksspiel – drehen durfte. Im 19. Jahrhundert spielte sich in der Stadt, die als „Sommerhauptstadt Europas“ bezeichnet und zugleich der europäischen „Winterhauptstadt“ Paris an die Seite gestellt wurde, selten große Politik ab. Der Bade- und Kurort Baden-Baden wurde sogar als „kleine Weltstadt“ bezeichnet. Dennoch war es von seiner Einwohnerzahl her nie mehr als eine „kleine Stadt mit einem großen Namen“ (Helmuth Bischoff).

Die Römer gaben der Siedlung den Namen "aquae" und hatten dabei vor allem die Quellen im Blick, die den Ruf der Stadt früh begründeten. Leicht solehaltig, sehr unterschiedlich von der Temperatur und von der Konsistenz, nutzten vor allem die römischen Offiziere der Legio VIII Augusta aus dem nahen Straßburg die Bademöglichkeiten. Die Bäderkomplexe waren umfangreich und entsprachen dem Stand der Wasser- und Badetechnik. "Aquae" selbst bestand zunächst vor allem aus vereinzelten Gutshöfen und einem militärischen Stützpunkt, entwickelte sich aber, wie Grabungsfunde belegen, zum Zentrum einer "civitas", einer befestigten Gemeinde bzw. eines Hauptortes.

Mitte des 3. Jahrhunderts endete die römische Herrschaft. Alemannen drangen vor. Ihre Kultur war nicht städtisch geprägt; deshalb sind aus dieser Zeit ebenso wie aus dem fränkischen Jahrhundert nur wenige Fundstücke überliefert. Erst kurz nach der Jahrtausendwende wird ein Ort namens "villa Baden im Ufgau" im Zusammenhang mit Schenkungen und Marktberechtigungen erwähnt. Historiker sind von nichts so fasziniert wie von der Kontinuität; deshalb ist immer dann Misstrauen angebracht, wenn über Jahrhunderte hinweg Licht in eine historisch verdunkelte Epoche gebracht werden soll.

Zähringer und Zisterzienser

Erst mit der Begründung der Herrschaft der Zähringer begann die Epoche ungebrochener Kontinuität, die sich auf die Überlieferung durch dichte und vielfältige Zeugnisse stützen kann. Baden hat römische Ursprünge, aber vor allem mittelalterliche Wurzeln. Durch Verheiratung mit Judith „von Dillingen“ errang der Zähringer Hermann II. zu Beginn des 12. Jahrhunderts die günstigste Position, die es damals für territoriale Absicherung von mittelalterlicher Herrschaft gab: Er wurde Graf, übernahm von seinem Vater den Titel des Markgrafen von Verona und wurde als "marchio de Baduon" angesprochen. Er begann den Bau einer Burg, die seit Mitte des 13. Jahrhunderts urkundlich überliefert ist. Für das spätmittelalterliche Baden wurde diese Burg viel wichtiger als der weitere Ausbau der Stadt, die dann etwa einhundert Jahre später bewehrt wurde.

Historisch ebenso folgenreich war die Stiftung des Zisterzienserklosters Lichtental Mitte des 13. Jahrhunderts. Dieses Kloster, das bis heute jeden Besucher beeindruckt, spirituell einnimmt und das seine klösterliche Ruhe zu einem guten Teil bewahren konnte, war zunächst bedeutender als der Markt Baden. Es besaß rund um Baden umfangreiche Besitzungen und Rechte, die es durch Schenkungen bekommen hatte. Lichtental gilt als Hauskloster des markgräflichen Hauses Baden und gewann hohes Ansehen als erste Grablege des badischen Herrscherhauses. Die Bedeutung des Klosters wird nicht zuletzt durch die Lichtentaler Allee betont, die niemals vergessen lässt, dass die Stadt mehrere gleichgewichtige Ursprünge und sich ineinander verschlingende Wurzeln hat.

Stadtgeschichtliche Wurzeln prägen die lokale politische Kultur

Ende des 14. Jahrhunderts wurde die städtische Pfarrkirche, die Mitte des 15. Jahrhunderts zur Stiftskirche wurde, als Grablege genutzt. Mehrere Klöster prägten zudem das kulturelle, schulische und geistliche Leben der Stadt Baden und erklären, weshalb der Katholizismus stets ganz fest in der Stadt wurzelte. Die erste protestantische Kirche wurde erst 1864 geweiht. Jesuiten, Kapuziner und die Schwestern vom Heiligen Grab verstärkten die frühen Einflüsse der Benediktiner und Zisterzienser, die ursprünglich in den fern gelegenen Klöstern Hirsau, Salem, Maulbronn und Herrenalb ansässig waren. Vor allem die Jesuiten machten im 17. Jahrhundert einen starken gegenreformatorischen Einfluss geltend und prägten die katholische Stadtbevölkerung.

Neben der kirchlichen Kultur entfaltete sich, wenngleich sehr begrenzt und viel langsamer, auch die bürgerschaftliche. Ein Rathaus ist früh nachgewiesen, dennoch gilt Baden als einer jener bäuerlich geprägten ländlichen Orte, wie es sie tausendfach in Deutschland gab. Auch als Residenz hatte Baden im 18. Jahrhundert endgültig ausgedient: Gegen Rastatt, Durlach, Ettlingen und Karlsruhe konnte sich die Stadt nicht behaupten. Und selbst wenn dies gelungen wäre: Kleinere Residenzstädte gibt es in Deutschland in geradezu unüberschaubarer Zahl. Das hervorstechende Merkmal dieser Zeit scheint deshalb zu sein, dass Baden zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits als „lustiger Bäderplatz“ gerühmt wird. In dieser Bemerkung leuchtet die weitere und entscheidende Zukunft der Stadt kurz und prägnant auf. Sie verliert sich auch nicht in den Kriegswirren der folgenden Jahrhunderte.

Die Stadt Baden wurzelt also nicht nur tief in der südwestdeutschen Vergangenheit, sondern ist von Anbeginn fast gleichgewichtig durch dynastische, bürgerschaftliche und kirchliche Einflüsse geprägt worden. Sie selbst ist so alt wie das markgräfliche Herrscherhaus, das zwischen 1806 und 1918 ein Großherzogtum regierte, dessen Herrscher sogar als Kompensation für eine ausbleibende Standeserhöhung – denn Baden wurde nie ein Königreich wie Bayern, Sachsen oder Württemberg – als kleiner Trost das Recht eingeräumt worden war, den Titel der „Königlichen Hoheit“ zu führen. Ständige Unruhe prägte seit dem 13. Jahrhundert nicht nur die dynastische Geschichte. Erbteilungen waren häufig und führten zu Auseinandersetzungen, diese wieder zu Zusammenlegungen des herrschaftlichen Besitzes. Dynastische Teilungen wurden im 16. Jahrhundert konfessionspolitisch aufgeladen. 1533 wurde die Markgrafschaft auf die protestantische Durlacher und die katholische Badener Linie aufgeteilt, bis 1771 dann durch das Aussterben der Badener Linie wieder beide Landesteile vereint wurden.

Der Krieg: die Mutter aller Katastrophen

Viel gravierender waren die Folgen der von französischen Truppen in die Stadt hineingetragenen Kriege, die Baden-Baden im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder zurückwarfen und schließlich so stark in Mitleidenschaft zogen, dass sogar der Wiederaufbau fraglich wurde. Zunächst erstarb der Kurbetrieb. Kurgäste brauchen Sicherheit bei ihrer Anreise. Die gab es während des Dreißigjährigen Krieges nicht mehr.

Der Angriff schwedischer Truppen von Gustav Adolf hat sich zwar nicht in das Gedächtnis der Nachlebenden eingebrannt, ganz anders als die Folgen des Pfälzischen Erbfolgekrieges, als französische Truppen unter Duras und Mélac die Stadt nicht nur brandschatzten, sondern am 24. August 1689 wirklich bis auf die Grundmauern niederbrannten. Nun war der Punkt erreicht, der zugleich das Ende einer Entwicklung und doch einen neuen Anfang verkörperte. Zunächst aber ging es noch eine weitere Stufe bergab, denn Markgraf Ludwig Wilhelm, der wegen seiner Erfolge im Kampf gegen die Türken auch „Türkenlouis“ genannt wurde, verlegte am Beginn des 18. Jahrhunderts seine Residenz von Baden nach Rastatt, wo ein monumental wirkendes Schloss nach Versailler Vorbild entstanden war. Die Bedeutung des Ortes Baden hingegen schwand, wenngleich der „Türkenlouis“ mit der Stiftskirche am Marktplatz die Grablege seines Hauses beibehielt.

Historiker suchen nicht nur nach Kontinuitäten, sondern auch nach Wendepunkten. Dabei dramatisieren sie manchmal die Vergangenheit politikgeschichtlich, indem sie die sozialgeschichtlichen Voraussetzungen des Wandels übersehen. Die Aufspaltung der Markgrafschaft 1533 wurde von ihnen übertrieben, als sie von einer „dynastischen Katastrophe“ sprachen. Denn durch die Teilung des Landes auf zwei Konfessionen bildete sich nach den bitteren Erfahrungen mit konfessionellen Auseinandersetzungen etwas heraus, was seitdem gern als badische „Toleranz“ bezeichnet wird. Konfessionelle Mischehen nahmen seitdem zu.

Kein "Kulturkampf"

Die Abschwächung strikter konfessioneller Segregation der Bevölkerung, die in vielen Teilen Deutschlands erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flucht und Vertreibung beendet wurde, hat im Großherzogtum Baden durch die Vereinigung der beiden konfessionell so verschiedenen Landesteile viel früher eingesetzt und mäßigte zumindest auf gesellschaftlicher Ebene die konfessionell-kulturellen Gegensätze, die im 19. Jahrhundert vor allem auf politischer Ebene als „Kulturkampf “ geführt wurden.

In Baden selbst wirkte sich überdies das Nebeneinander von Angehörigen verschiedener Konfessionen und Nationen aus. Heftige konfessionelle Konflikte wären dem Hotelleben und Kurbetrieb mehr als abträglich gewesen. Überdies war das Karlsruher Ständehaus, in dem die Redeschlachten zwischen antikatholischen Liberalen und den katholischen Abgeordneten der Zentrumspartei geführt wurden, weit. Mochte dort heftig gestritten werden, so mussten diese politischen Gegensätze nicht zu Konfrontationen im städtischen Alltag oder sogar zu nachbarschaftlichen Konflikten führen. Simultankirchen, die im Südwesten von beiden Konfessionen genutzt wurden, zeugen davon.

In Baden-Baden finden wir neben städtischen Kirchen eine anglikanische Kirche (St. Johannis), eine russische Kirche, wunderbare Jugendstilkirchen – darunter das Erstlingswerk des bedeutenden Architekten Martin Elsässer – sowie eine Synagoge, die traurige Berühmtheit erlangte, weil sie von Nationalsozialisten am Tage nach dem Novemberpogrom vom 9. November 1938 mittags durch Brandstiftung zerstört wurde. Dieses Bild von der brennenden Synagoge ging um die Welt ebenso wie der „Schandmarsch“ der Baden-Badener Juden, der deutlich machte, dass die Verfolgung dieser Mitbürger vor den Augen aller stattfand. Das Bild der brennenden Synagoge wurde viele Jahrzehnte später als Vorlage für eine Sondermarke der Deutschen Bundespost genutzt, die anlässlich des 50. Jahrestags des Novemberpogroms erschien.

Im 19. Jahrhundert – politisch riskant, doch viel gewonnen

Das 19. Jahrhundert brachte einen zwar langsamen, im Rückblick aber doch phönixhaft anmutenden Aufstieg der Stadt und vollzog sich im Windschatten der größeren Reichs- und Landespolitik. Wichtig für die weitere Entwicklung war, dass sich das Großherzogtum nach dem Sturz Napoleons behauptete und dass es gelang, die Bevölkerung mit dem neuen Staat zu versöhnen. Wie konnte dieser Prozess befördert werden? Vor allem durch die Betonung dynastischer Treue der Bürger zum Herrscherhaus. Das bedeutete, dass immer Rücksicht auf die Stimmung der Bürger genommen wurde. Eine moderne Verfassung, der gezielte Ausbau der Verkehrswege und die Förderung der Bildung waren probate Mittel der staatlichen Konsolidierung und gesellschaftlichen Integration.

Der neue deutsche Staat Baden galt besonders bei den Liberalen und Demokraten, die verfassungsgeschichtlich die Zukunft verkörperten, als modernes Gemeinwesen. Das wog mehr als territoriales Sicherheitsstreben Frankreichs. Denn die Markgrafschaft war für Napoleon zunächst vor allem als Puffer zwischen den deutschen Territorien und Frankreich von Bedeutung.

Baden vertrat im Rheinbund durchaus französische Interessen, wechselte im letzten, aber entscheidenden Augenblick die Fronten und konnte auf dem Wiener Kongress (1815) die Gewinne behaupten, die im Zuge der Säkularisation kirchlichen Besitzes und der Mediatisierung der Standesherrschaften das Territorium der Markgrafschaft versiebenfacht hatten. Kronprinz Karl heiratete die Adoptivtochter Napoleons, Stéphanie de Beauharnais. Seine Schwester war mit dem russischen Zaren Alexander I. verheiratet. Allerdings war dynastische Sympathie, die sich auf Heiratsallianzen stützt, im Zeitalter erstarkender Volkssouveränität nicht mehr ausreichend. Immer hätte die Legitimationsfrage neu aufgeworfen werden können. Deshalb war es bemerkenswert, dass die Landesherren durch verfassungspolitische Konzessionen die Unterstützung ihrer Untertanen gewinnen wollten und konnten.

Kommunalgeschichtliche Entwicklungen

Neben den großen politischen Linien sind auch die kommunalgeschichtlichen Entwicklungen bedeutsam und zukunftsträchtig. Mitte des 17. Jahrhunderts wurde bereits eine Bäderkommission berufen, die später Friedrich Weinbrenner entscheidend prägte, als er sich auf die Umgestaltung der Stadt Baden konzentrierte. Nun konnte die Stadt, deren Befestigungen seit 1814 geschleift worden waren, planvoll erweitert werden. Eine Promenade wurde geschaffen, die sich zur wichtigen Achse der gesellschaftlichen Konversation entwickelte. Denn vor allem in der Kommunikation bildeten sich neue Umgangsformen heraus, die Adel und Bürgertum in gleicher Weise prägten.

Jenseits der Oos entstand im Laufe von etwa 20 Jahren ein Kurviertel, dessen Ruf rasch wuchs und das immer mehr Menschen anzog. Zunächst kamen 300 Gäste pro Jahr; 25 Jahre später waren es schon weit über 8000. Die ortsansässigen Badener passten sich dieser Entwicklung an. Mochte man andernorts auch die Säkularisation der Klöster als Raub bezeichnen – in Baden ging man ganz pragmatisch mit diesen Eingriffen um. Aus dem Kapuzinerkloster wurde der Badische Hof, dem viele andere elegante Hotels folgten, die geeignet waren, selbst ganze Herrscherfamilien samt dem reisenden Hofstaat aufzunehmen. Es ging schon längst nicht mehr um die Förderung der Gesundheit und Überwindung von Krankheiten, sondern um „Gesellschaft“, was immer das hieß. Die Stadt Baden wurde zum „Gesellschaftsbad.“

"Die Kurgesellschaft"

Das hatte gravierende Folgen für die Zusammensetzung der Bevölkerung, die sich in die „Kurgesellschaft“ integrierte. Sie bestand aus Bediensteten, Zimmermädchen, Köchen, Kellnern und natürlich aus Literaten, bildenden Künstlern, Großbürgern, Angehörigen des europäischen Hochadels, regierenden Häuptern. Hoteliers als Vertreter des Bürgertums begegneten in ihren repräsentativen Häusern Monarchen – unter ihnen der preußische König Wilhelm und seine Frau Augusta – gleichsam auf Augenhöhe, der Adel beteiligte sich an den kulturellen Debatten des Bürgertums, dieses ließ seinen Geschmack durch „höhere Gesellschaftsschichten“ bilden.

Die Kurgesellschaft war eine multikulturelle Gesellschaft "par excellence" und eröffnete nicht nur Parvenüs, sondern auch sozialen Aufsteigern hervorragende Chancen. Nicht zuletzt aber entwickelte sich Baden zu einem Raum, in dem sich Menschen verliebten. Unter diesen war Großherzog Friedrich, der im Hotel Messmer erstmals der preußischen Prinzessin Luise begegnet. 1856 wurde geheiratet – das spätere deutsche Kaiserhaus und das Haus Baden waren auf diese Weise fest verbunden bis zum Tode Friedrichs im Jahre 1907. Großherzog Friedrich I. war es, der in Versailles nach dem Deutsch-Französischen Krieg auf Kaiser und Reich einen Trinkspruch ausbrachte.

Residenz des finanziell betuchten Bürgertums

Zugleich entstanden in der Stadt neue bürgerliche Dynastien, an ihrer Spitze der Pächter der Spielbank Jean Jacques Bénazet, dem im Revolutionsjahr 1848 dessen Sohn Edouard Bénazet folgte. Er setzte auf die Vermengung von Spiel, Gesellschaft, Badekur und Kultur, indem er das Theater finanzierte. Seine Spielbank, die auch kräftig Gewinn für den Staat abwarf, prägte das Bild Badens mehr als alles andere. Die Stadt zog nicht nur Spieler, sondern auch Kurtisanen und die Halbwelt an. Russische Schriftsteller wie Turgenjew, der mit "Rauch" ein wunderbares Bild des geistigen Klimas der Stadt hinterließ, Dostojewskij oder Tolstoi lenkten den Blick auf die Stadt, mehr aber noch die Vertreter des russischen Hochadels, die Gagarins und die Menschikows, die ihre Paläste bauten.

Maler wie Gustave Courbet und Eugène Delacroix, sowie Musiker wie Johannes Brahms und Clara Schumann prägten das Bild der Stadt nachhaltig und belegten zugleich, dass es sich hier nicht nur um das Eldorado der Glücksritter, sondern vor allem um eine heitere, gleichsam sommerfrische Lebensform handelte, in der vieles nebeneinander stand, die große Welt und die insgeheime Liebe, deren Rätsel – wie die Beziehung zwischen Johannes Brahms und Clara Schumann zeigt – bis heute nicht entschlüsselt werden können.

"Im Sog der großen Politik"

Zwischen der Reichsgründungszeit und dem Ersten Weltkrieg geriet die Stadt wiederum in den Sog der großen Politik. Erst nach dem Verbot des Glückspiels durch die Reichsregierung im Jahre 1872 wandelte sich Baden zur Kurstadt. Große Hotels und mondäne Bäder festigten den Ruf als Kurort. 1877 wurde das Friedrichsbad, wenig später das als Frauenbad genutzte Augustabad eröffnet. Um die Jahrhundertwende wurde ein staatliches Rheumakrankenhaus als „Landesbad“ eröffnet. So wurde die Schließung des Spielkasinos kompensiert und eine Wandlung eingeleitet, die das Gesicht der Stadt ebenso prägte wie zuvor die mondäne Welt der Reichen und Mächtigen. Auch das Theater glänzte, aber besonders strahlten die großen Hotels, von denen das „Brenners“ zu einem weltweit führenden Hotel aufstieg.

Nach dem Deutsch-Französischen Krieg blühte die Stadt noch einmal richtig auf. Umso tiefer war der Fall, den der Erste Weltkrieg und die deutsche Kapitulation bedeuteten. Das französische Einzugsgebiet war plötzlich gekappt, Elsass und Lothringen wurden wieder französisch. Aber auch diese Krise wurde bewältigt, denn Baden-Baden wandelte sich zur Stadt mit vielen Kurheimen, wurde zum begehrten Alterswohnsitz und zog mit seiner Eleganz die Wohlhabenden aus aller Welt an. Das setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort: Amerikaner, Araber, Japaner, schließlich die wohlhabenden Russen retteten die Stadt vor dem Niedergang, der eigentlich nach den Katastrophen der beiden Weltkriege zu erwarten gewesen wäre.

1945 – tiefgreifender Umbruch als Neubeginn

Den Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt Baden-Baden weitgehend unzerstört überstanden. In den Hotels hatte man Lazarette und sogar Gefangenenlager für Offiziere eingerichtet. Zum zweiten Male wurde das Ende, die Niederlage Deutschlands, ein neuer Anfang. Dies gab der Stadt erneut eine außerordentliche Bedeutung, denn sie mutierte zur Hauptstadt der französischen Truppenverwaltung in Deutschland. Heute weiß man, dass die deutsch-französischen Beziehungen auf lange Sicht zur Grundlage der europäischen Integration und damit des friedlichen Miteinanders in Europa wurden. Wichtige Voraussetzungen dieser Annäherungen waren bereits in der Zwischenkriegszeit gelegt worden, als Aristide Briand und Gustav Stresemann die Auseinandersetzung über Abgrenzungen nach den Erfahrungen im „Großen Krieg“ auf eine Weise regelten, die nach einer erneuten politischen Katastrophe nach 1945 ein neues freundschaftlicheres deutsch-französisches Verhältnis zur Grundlage der europäischen Integration und damit eines dauerhaften vertrauensvollen Miteinanders machten. Gerade diese Entwicklung macht noch einmal die zeitgeschichtliche Bedeutung Baden-Badens in den 1960er-Jahren deutlich.

Wenn man Deutsche, Franzosen oder Einwohner der Stadt Baden-Baden in der berühmten „Stunde Null“ des Jahres 1945 gefragt hätte, ob sie sich vorstellen könnten, dass sich Deutschland – besiegt, geteilt, auch moralisch am Ende – und Frankreich – in nicht einmal einhundert Jahren drei Mal von deutschen Truppen angegriffen, zerstört, besetzt – zum Kern eines zusammengewachsenen Europas entwickeln würden, sie hätten den Fragesteller als Fantasten bezeichnet. Erinnert hätten sich die Deutschen an die Beschwörungen einer angeblichen „deutsch-französischen“ Erbfeindschaft, die früh von Kaiser Maximilian I. propagiert wurde und vor allem seit dem 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Nationalstaaten, die politische Folklore in Mitteleuropa geprägt hatte.

Die Deutung der Gegenwart kommt in der Regel nicht ohne den Rückblick aus; die Deuter der Gegenwart aber bedienen sich dabei der Vergangenheit oft nur, um ihre Deutungen des Jetzt und Heute plausibel zu machen. Sie konstruieren die Vergangenheit, sie verzeichnen sie nicht selten und verstellen dabei manche Alternativen historischer Entwicklung, die stets auch in ihr angelegt waren. So gab es neben der behaupteten Erbfeindschaft immer auch eine positive, konstruktive, Brücken bauende Deutung deutsch-französischer Beziehungen, die von Künstlern, Schriftstellern, Historikern und Politikern weiterentwickelt wurde. Gerade dafür stand die Stadt im 19. Jahrhundert, denn Baden-Baden wurde als eine Schwesterstadt von Paris empfunden. An viele dieser Erfahrungen ließ sich nach 1945 anknüpfen, als deutlich wurde, dass Europa nur zur Ruhe kommen könnte, wenn es gelang, die angeblichen Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich zu überwinden und die daraus entstehende Gemeinsamkeit zum Fundament eines neuen europäischen Miteinanders in Frieden und Ausgleich zu machen.

Baden-Baden – ein Fundament der deutsch-französischen Freundschaft

Deutsche und Franzosen, „Germania“ und „Marianne“, schienen seit Jahrhunderten, so behauptete es der Geschichtsunterricht und so verbreiteten es Publizisten und Historiker, gleichsam durch ihre politischen Gene zur bedingungslosen und unüberbrückbaren Feindschaft bestimmt gewesen zu sein. Deutsche und Franzosen selbst empfanden sich, so scheint es, viel weniger als „Erbfeinde“, je konkreter sie sich kannten. Es brauchte viele Jahre und leider auch eine Vielzahl von Katastrophen, bis wir nach deutsch-französischen Gemeinsamkeiten fragten. Die angeblichen Gegensätzen traten für kluge Köpfe, Madame de Staël, Heinrich Heine, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, später dann Alfred Grosser, Joseph Rovan und Etienne François, früh zurück; sie suchten Deutschland in Frankreich und Frankreich in Deutschland, und das gerade nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Philosophie, der Kunst, der Musik und schließlich in der Geschichte. Veränderungen beeinflussen Wahrnehmungen, Denken, Verständnis und Empathie. Auch das lässt sich in Baden-Baden erkennen, denn hier entwickelte sich nach 1945 ein Schwerpunkt deutsch-französischen Austausches und Miteinanders.

Der Rhein war so nur scheinbar eine Grenze, die trennte. Denn Flüsse sind immer Kommunikationsschienen gewesen, Medien des Austausches, des Handels, der kulturellen Beeinflussung. In der Tat bilden wir unsere Vorstellungen von den Räumen, in denen wir leben und in denen wir uns bewegen, im Kopf. Dort prägen wir unsere ganz persönliche „Mental Map“, eine geistige Landkarte, die nicht abhängig ist von physischen Grenzen, von Gebirgen, von Flüssen, von Wüsten, sondern von unserem Kommunikationsverhalten. Unsere „Mental Map“ spiegelt unser Verhalten wider: Wo kaufen wir ein? Wo treiben wir Sport? Wohin gehen wir aus?

Wo liegt unser Flugplatz? Wo sind die Museen, in die wir sonntags gehen? Diese Fragen bestimmen unsere Vorstellung von der Welt, in der wir leben, und natürlich hängen diese mentalen Räume von der Mobilität ab, die wir praktizieren können – geistig und räumlich, wirtschaftlich und kulturell.

Baden-Baden: deutsch-französisch geprägt

Kein Land der Bundesrepublik, sieht man vom Saarland ab, ist so durch die deutsch-französischen Beziehungen geprägt worden wie Baden; keine Stadt so sehr und auch so positiv wie Baden-Baden. Die französische Besatzungsmacht, die sich nach kurzer Zeit nicht mehr als solche verstand, hat tiefe Spuren in einer alltäglichen Beziehungsgeschichte hinterlassen. Bis heute ist Baden-Baden eine der in Frankreich bekanntesten deutschen Städte. Wir wissen, in welchem Maße Kontakte von Rahmenbedingungen abhängen. Diese sind gestaltbar, zum Glück. Lenken wir den Blick zurück in die Zeit des Kalten Krieges: Ein Eiserner Vorhang war mehr als eine Verkehrsbarriere, er wirkte wie ein Brett vor dem Kopf – mit einem Brett vor dem Kopf aber – wir wissen es – sieht man nicht weit, schränkt man den geistigen Horizont ein, stellt man das Fragen ein, lähmt man seine Neugier.

Deshalb war die Voraussetzung für die Veränderungen, die man sich 1945 nicht vorstellen konnte und an die wir uns inzwischen wie selbstverständlich gewöhnt haben, eine Veränderung der Kommunikationsbedingungen in der Gegenwart. Veränderungen wurden häufig gegen Widerstände durchgesetzt. Vorurteile mussten überwunden werden. An diese Aufgabe machten sich nach 1950 europäische Politiker in Frankreich, Belgien, Deutschland, Italien, den Niederlanden und Luxemburg. Sie zeigten, in welchem Maße es auf die Bereitschaft des Einzelnen ankommt, Akzente zu setzen, auch dann, wenn sie von der verbreiteten „demoskopisch manifesten“ Stimmung abweichen. Politisch couragiert, trauten sie sich zu, Veränderungen anzustoßen und durchzusetzen, häufig gegen Widerstände, die kompensiert wurden durch die Gemeinsamkeit der Europapolitiker.

Stadtgeschichte exemplarisch: Spiegelbild des politischen Wandels

Gerade weil Baden-Baden stadtgeschichtlich so tief im 19. Jahrhundert wurzelt und eine Welt spiegelt, die als „Welt von gestern“ gilt (Stefan Zweig), erschließt dieser Erinnerungsort mehr als Müßiggang, Luxus und Wellness. Denn hier lassen sich auch historische und politische Wurzeln europäischen Zusammenlebens erfahren.

Mit dem 19. Jahrhundert, das zwar durch Nationalstaaten geprägt und belastet war, sich aber nicht in der Geschichte der Nationalstaaten erschöpfte, entstand eine neue europäische Kultur durch Überlagerung, Vermengung, Anreicherung, Veränderung, durch Austausch, durch Kommunikation. Die europäischen Teilkulturen, ebenso gegensätzlich wie aufeinander bezogen, prägten die Welt trotz aller politischen Katastrophen. Deshalb gilt das 19. Jahrhundert als das eigentliche Zeitalter Europas, als das Zeitalter, das zwar keine nachhaltig wirkende europäische Hegemonialkultur schuf, sondern durch kulturelle Vielfalt, durch Gleichzeitigkeit, durch Multikulturalität gekennzeichnet war und so das Bild Europas in der Welt prägte.

Damit wird der Blick auf Baden-Baden gelenkt, auf die europäische Kultur- und nicht nur Sommerhauptstadt, die in der Provinz liegt. Die Provinz, sagte der Schriftsteller Uwe Dick, sei „im Kopf und dort am tiefsten, wo der Kopf am flachsten ist“. Provinz endet, wo die interkulturelle Kommunikation beginnt. Baden-Baden war seit Jahrhunderten ganz auf Austausch eingestellt. Dieser Rolle wurde es in Glanzzeiten gerecht. War dieser Austausch gestört, war das gleichbedeutend mit Niedergang und stellte sich geradezu als tragische Geschichte dar, denn alle europäischen Tragödien des 20. Jahrhunderts wirkten sich auf die Entwicklung der Stadt besonders negativ aus.

Der deutsch-französische Krieg als Beginn wachsender Bedrückungen

Der Deutsch-Französische Krieg, eine Urkatastrophe des 19. Jahrhunderts, barg in sich den Keim weiterer Katastrophen, die das 20. Jahrhundert prägten, lähmten und schließlich so niederdrückten, dass das Ende des „europäischen Zeitalters“ zumindest im welthistorischen Zusammenhang konstatiert wurde. Die preußische Artillerie deutete mit der Bombardierung Straßburgs im Jahre 1870 etwas an, was der weit über den Horizont seiner Zeit hinausschauende russische Dichter Turgenjew als das „Ende des Abendlandes“ empfand.

Der Erste Weltkrieg, den die Franzosen bis heute den „Großen Krieg“ nennen, machte Baden-Baden fast zur Frontstadt; mit furchtbaren Folgen für den Kurort, denn mit dem Vertrag von Versailles war das ganze französische Umland verloren und damit auch das Einzugsgebiet der noblen und großzügigen Gäste. An ihre Stelle traten dann die Nord- und vor allem die Südamerikaner. Sie kamen aus Weltregionen, deren Bewohnern Mark Twain in seinem Buch "A Tramp Abroad" ein Bild von Baden-Baden vor Augen gestellt hatte, das nicht ganz der Realität entsprach.

Aber welche touristische Werbung entspricht schon der Realität? Wenig später kamen die mit der bolschewistischen Oktoberrevolution entwurzelten emigrierten Russen. Mitte der 1930er-Jahre bereitete der Nationalsozialismus der Stadt eine Tragödie, die sich schließlich im Winter 1938 nach dem Novemberpogrom mit der vor aller Augen forcierten Vertreibung der Juden steigerte. Die Leichtigkeit schwand, Bedrückungen nahmen zu. Es waren Schriftsteller von hohem Rang, die das andere Deutschland verkörperten und biografisch mit Baden-Baden verbunden sind, vor allem Reinhold Schneider, Werner Bergengruen, Gerhard L. Durlacher, die zugleich europäische Bezüge in ihren Werken erschließen wollten und so die Zivilität und Zivilisation beschworen, die sie längst vergehen sahen.

Das Zeitalter europäischer Integration

Mit dem Beginn der Nachkriegszeit wurde in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Zeitalter der europäischen Integration eingeleitet. Es hängt wieder mit Baden-Baden zusammen: Baden-Baden wurde Sitz der französischen Zonenregierung und Hauptquartier der französischen Streitkräfte in Deutschland. General Pierre Koenig ist bis heute ein fester, ein guter Begriff. Aber es ging niemals nur um das Oberkommando, sondern die Stadt wurde geprägt von zehntausenden von französischen Soldaten, zunächst aus der Befreiungsarmee des Marschalls Leclerc, später von Wehrpflichtigen unter dem Befehl von General Koenig.

Baden-Baden, das war auch der Sitz des Südwestfunks (SWF), der inzwischen mit dem Süddeutschen Rundfunk (SDR) zum Südwestrundfunk (SWR) verschmolzen ist. SWF, das war einer der besten Sprachsender, und ist es bis heute geblieben, manchem bekannt wegen seines schönen Fernsehbildes, dem dampfenden römischen Brunnen. SWF, das war auch Alfred Döblin, der als französischer Kulturoffizier das Kulturprogramm des Senders prägte. Baden-Baden stand aber auch für Schriftsteller, die in verschiedenen Kulturen gelebt hatten und verkörperten, was man abendländische Kultur nannte.

Reinhold Schneider und Bergengruen sind für die europäische Funktion der Stadt Baden-Baden besonders wichtig, denn sie verkörperten die vielschichtigen kulturellen europäischen Überlagerungen, die eine Chance für Baden-Baden bedeuten können: Bergengruen, der Balte, übersetzte ostmitteleuropäische und osteuropäische Denk- und Wertvorstellungen in unsere Literatur, Schneider knüpfte an die christliche, abendländische Kultur an und transponierte sie in die europäische: Portugal, Spanien, Italien, Frankreich, England, das war seine geistige Heimat, die im Oberrhein wurzelte – diesseits und jenseits des Rheines. Beide Literaten stehen für ein Kulturbewusstsein und Lebensgefühl, für ein Staats- und ein Verfassungsverständnis, das in die Zukunft weist.

Auf dem Weg zur deutsch-französischen Freundschaft

Schneider bekam mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels einen wahrhaft europäischen Preis, wie sein Laudator Bergengruen hervorhob, weil er niemals Konventionen bediente, weil er Vereinsamung aushielt, weil er als Repräsentant deutscher Sprache und Kultur zugleich fremd in dieser Kultur war, durch Distanz, durch einen europäischen, grenzüberschreitenden Bezug. Seit den 1970er-Jahren schrieb der aus Baden-Baden vertriebene Gerhard L. Durlacher seine Erinnerungen nieder, Verarbeitungen einer Wirklichkeit der Verfolgung, der Ausgrenzung und des Schreckens, des Verlustes, Reflexionen, die Teil einer europäischen Erinnerungskultur geworden sind, ohne in das Klischee zu verfallen, dem zufolge die Erinnerung das Geheimnis der Versöhnung sei. Denn es geht um die Auseinandersetzung mit einem stets gegenwärtigen Zivilisationsbruch, der – um mit Theodor W. Adorno zu sprechen – „nicht war“, sondern – als Potenzial – weiterhin „ist.“

Reinhold Schneider, Werner Bergengruen und Gerhard L. Durlacher lebten in der – von ihnen nicht recht erkannten – Formierungsphase eines neuen Europas. Dieses Europa wurde von einzelnen Politikern vorausgedacht, ohne dass sie auf Bevölkerungsstimmungen achteten. Diese Politiker – Robert Schumann, Konrad Adenauer, Henri Spaak, Jean Monet, Alcide De Gasperi – ließen sich nicht durch partielles Scheitern ihrer Pläne und Visionen entmutigen. Sie setzten den europäischen Integrationsprozess konsequent fort, ohne Masterplan, Stück für Stück, inkrementalistisch, aber sie kamen voran. Und einer der entscheidenden Durchbrüche wurde 1962 in Baden-Baden erzielt, in der denkwürdigen Begegnung von Charles de Gaulle und Konrad Adenauer.

Eigentlich ist es unvorstellbar gewesen, dass beide, die jeweils Repräsentanten ihrer Nationalgeschichte waren, sich gegenseitig verstehen und deshalb den entscheidenden Durchbruch erzielen würden. De Gaulle war 1940 der Überzeugung, das wahre Frankreich zu verkörpern; er akzeptierte die Kapitulation der Regierung Pétain nicht und kämpfte an der Seite der Alliierten. Und Adenauer, der Zentrumsmann, war den Nationalsozialisten niemals verfallen gewesen. Adenauer war überzeugt, dass die Integration der Bundesrepublik in den Westen den deutschen Sonderweg beenden würde; diese Integration müsste aus der unruhigen deutschen Mitte Europas einen Motor europäischer Zusammenarbeit machen.

Im Zentrum großer Politik: das Treffen de Gaulles und Adenauers 1962

Wenn über de Gaulle und Baden-Baden gesprochen wird, erinnert man sich gern daran, dass der französische Staatspräsident vor den Mai-Unruhen, die 1968 Paris erschütterten, in Baden-Baden Ruhe, Sicherheit und Zuflucht suchte und fand. Das war gewiss nicht Ausdruck politischer Feigheit, sondern Folge politischer Unsicherheit – vor allem wurde deutlich, dass er auf seine Armee vertraute. 1968 war de Gaulle aber nicht zum ersten Male in Baden-Baden. Adenauer hatte hier sechs Jahre früher bei einer wichtigen Begegnung mit de Gaulle einen politischen Durchbruch erzielt.

Der deutsche Bundeskanzler hatte sich in den 1950er-Jahren zu einem entschlossenen Europäer entwickelt, der wusste, dass die Allianz von Bonn und Paris den Kern Europas ausmachte. Er war bereit, einen großen Teil deutscher Identität mit der europäischen zu verschmelzen. De Gaulle allerdings hing an seinem Konzept eines Europas der Vaterländer. Aber man muss nicht alle Gegensätze klären, man kann sie auch überspielen und dann weitersehen. Das war der Schlüssel des europäischen Fortschritts, der sich dann im Élysée- Vertrag ein Jahr später abzeichnete und aus Deutschland und Frankreich den Kern Europas werden ließ – ein Kern, der sich bis heute bewährt.

Europas Integration war ein Prozess, dessen Ende nicht geplant werden konnte. Nur das Ziel – eine Art Vereinigte Staaten von Europa – war klar. Das begriffen de Gaulle und Adenauer am 15. Februar 1962 bei ihrer Begegnung in Baden-Baden. So wurde nicht einmal 15 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik in Baden-Baden deutlich, dass sich nationale Grenzen verändern, dass es neben nationalen Interessen auch eine europäische Gemeinsamkeit gab, dass sich Wahrnehmungen wandelten, dass Kommunikationssperren aufgehoben werden konnten, dass die Vergangenheit nicht alles erklärte, sondern auch Fehler sichtbar machte, die in Zukunft zu vermeiden waren.

"Raum für Verständigung, Schiedsspruch für Frieden!"

So bedeutet Baden-Baden auch einen Wandel in den deutsch-französischen Beziehungen. Er war so tiefgreifend, dass wir Mühe haben, ihn zu verstehen. Deshalb muss man noch einmal weit in die 20er-Jahre zurückblicken, als Aristide Briand die Grundlagen eines neuen Europa auf der Grundlage der deutsch-französischen Zusammenarbeit schuf. Er hatte den „Großen Krieg“ nicht so sehr als nationale Selbstbehauptung der Franzosen, sondern als europäische Katastrophe wahrgenommen. Er habe damals „so Furchtbares gesehen“, das „schreckliche Gemetzel“ habe ihn „mit solchem Schauder erfüllt“, dass er sich „bei seinem Gewissen schwor, wenn je der Sieg errungen wäre und der Zufall ihn wieder an die Macht beriefe, sein ganzes Sinnen und Trachten“ darauf gerichtet sein müsse, sein „Dasein der Sache des Friedens zu widmen, um die Wiederkehr solcher Gräuel zu verhindern“.

Die Konsequenz war für ihn so klar wie einfach: „Sie sind Deutscher, ich bin Franzose. Auf diesem Boden werden wir uns schwer verständigen. Aber ich kann Franzose sein und guter Europäer, Sie Deutscher und guter Europäer. Zwei gute Europäer müssen sich verständigen.“ Er wusste: „Ehe Deutschland und Frankreich nicht Hand in Hand gehen, wird nirgends Frieden werden.“ Deshalb ließ er sich nicht von der öffentlichen Meinung irritieren, die weit hinter seine Einsichten zurückgeblieben war: „Wir haben europäisch gesprochen, eine neue Sprache, die man lernen sollte.“ Als im französischen Senat seine Locarno-Politik angegriffen wurde, fragte Briand verwundert: „Wie denn? Ewig? Soll dieser Zustand ewig dauern? Ewig soll man einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland zu fürchten haben? Ewig sollen diese beiden Völker nur an Rüstungen denken, offen oder versteckt? Immer neue Kriege – und das nennen Sie eine Zukunft?“

Bestätigt fühlte sich Briand, der auch weiter vorpreschte als seine deutschen politischen Partner, durch Veteranen des „Großen Krieges“, durch Kriegsbeschädigte, Kriegskrüppel, die ihn aufforderten, seine Versöhnungsarbeit, die auf dem Willen zum gegenseitigen Verständnis beruhte, fortzusetzen. Deshalb rief er aus: „Es ist vorbei mit dem Krieg zwischen uns! Es ist vorbei mit den langen Trauerschleiern, mit all den Leiden, die sich nie wieder über unsere Länder legen werden. Nie wieder blutige Lösungen, um unsere Differenzen auszugleichen, die weiter bestehen werden! Jetzt wird ein Richter da sein, Recht zu sprechen! Weg mit Gewehr und Kanonen! Raum für Verständigung, für Schiedsspruch, für Frieden!“

Baden-Baden als Bild für den europäischen Frieden

Es war derselbe Geist, der aus der Frage sprach: „Haßt der Franzose den Deutschen?“. Mit dieser provokanten Herausforderung leitete Kurt Tucholsky 1926 einen kleinen Aufsatz der „Weltbühne“ ein und unterschied sich mit seiner Antwort von vielen Landsleuten. Sie war eindeutig: Der Franzose hasse den Deutschen nicht; der Deutsche scheint vielmehr für Tucholsky das Problem zu sein, denn er sei „von leichter Monomanie besessen, weil er alles darauf abstelle, ob man ihn liebe oder nicht“. Es ist fast rührend, wie Tucholsky von Menschen berichtet, die ihm die Hand hinstreckten und sagten: „Que voulez-vous! La guerre est finie.“ Und Tucholsky endete mit einem Appell: „Streckten wir die Hände aus: sie würden ergriffen werden. Nur wissen wir nichts voneinander, sind uns fremd und so weit voneinander entfernt. Sähe der Franzose die Hand: er ergriffe sie.“

Vielleicht ist das das wichtigste Bild, das Baden-Baden als Erinnerungsort vermittelt: Adenauer und de Gaulle treffen sich im Kurhaus Weinbrenners und reichen sich nicht nur die Hand. Sie beschwören mit der deutsch-französischen Freundschaft den europäischen Frieden. Dafür steht Baden-Baden, und das ist wichtiger als Luxus, Wohlbefinden, Müßiggang und Spielleidenschaft.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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