Lörrach – Industrialisierung am Oberrhein 

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Die Industrialisierung am Oberrhein begann Anfang des 19. Jahrhunderts und ist ohne den Einfluss der Nachbarn Schweiz und Elsass nicht denkbar. Basel und Zürich sowie Mülhausen und deren Unternehmer waren besonders einflussreich. Diese Entwicklung setzte im Südwesten ein und erreichte erst später die nördlicheren Teile Badens.

Lörrach und St. Blasien zählen zu den ersten Orten industrieller Initiativen überhaupt in Deutschland, auch wenn die Industrialisierung insgesamt in Baden später einsetzte als in Sachsen und am Niederrhein. Einen Schub brachte in den 1830er-Jahren der Beitritt Badens zum Deutschen Zollverein. Der Eisenbahnbau und die Schiffbarmachung des Rheins waren danach wichtige infrastrukturelle Maßnahmen, die vor allem Mannheim ab der Jahrhundertmitte zur besungenen Wirtschaftsmetropole Badens wachsen ließen.

Autor: Hermann Schäfer

Der Text von Hermann Schäfer erschien unter dem Titel „Industrialisierung am Oberrhein... in Lörrach die Fabrik" anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt. 

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"... in Lörrach die Fabrik"

Lieder und Liedtexte sind nicht selten Spiegel ihrer Entstehungsgeschichte. Auch das Badnerlied hat viele, meist vergessene historische Bezüge und könnte genauso gut als ein eigener Erinnerungsort betrachtet werden. Wäre es Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, hätte gewiss niemand eine Fabrik in Mannheim besungen. Denn die Stadt der Quadrate war damals mehr Residenz- und Festungsstadt als Gewerbe-, geschweige denn Industriestadt – auch wenn Karl Drais hier 1817 seine Laufmaschine entwickelte. Die Industrialisierung, also die Einführung von Arbeitsmaschinen in die Produktion, begann in Baden tatsächlich am südlichen Oberrhein Anfang des 19. Jahrhunderts: im rechtsrheinischen Lörrach und gleichzeitig, etwa 50 km von dort, tief im Schwarzwald, im ehemaligen Kloster St. Blasien. Die entsprechende Strophe des Badnerliedes hätte Anfang des 19. Jahrhunderts also eher gelautet:

In Karlsruh' ist die Residenz,
in Lörrach die Fabrik,
in Rastatt ist die Festung,
und das ist Badens Glück!

Investoren und Industrialisierung

In Lörrach fanden 1808 die Gebäude einer ehemaligen Manufaktur das Interesse potenter Investoren, der Brüder Johann Jacob und Christian Merian, der wohl reichsten Kaufleute Basels, und Nicolas Koechlins, einem der führenden Unternehmer aus dem elsässischen Mülhausen. Die Merians besaßen ein großes Handelshaus und waren bereits an mehreren Fabriken beteiligt, unter anderem an Baumwolldruckereien Koechlins in Mülhausen. Gemeinsam waren sie bereit, in den Lörracher Betrieb zu investieren, um ihn auszubauen und zu mechanisieren. Dieser hatte zwar seit den 1770er-Jahren floriert und in den 1780ern sogar über 400 Menschen beschäftigt, war jedoch infolge der Revolutionskriege der 1790er- Jahre in große Schwierigkeiten geraten, danach aus vielfältigen Gründen – gewachsene Konkurrenz, Handelshemmnisse und Blockadepolitik, fehlende Investitionsmittel – nicht mehr auf die Beine gekommen und hatte schließlich vier Jahre stillgelegen.

Im Mai 1808 wurde die neue "Großherzoglich- badische gnädigst privilegierte Zitz- und Cottonfabrik in Lörrach" unter Leitung von Nicolas Koechlins Bruder Peter gegründet. Bereits im Jahr darauf wurde eine erste neue, nach englischem Patent konstruierte Walzendruckmaschine eingebaut. Diese Rouleauxdruckmaschine brachte Peter Koechlin aus Mülhausen nach Lörrach, weitere folgten, so dass ab 1809 die ehemalige Manufaktur die Qualität einer industriellen Fabrik erhielt und bereits wieder 200 bis 300 Menschen beschäftigte. Die Geschäfte liefen bestens und hatten wohl im Frühjahr 1810 ihren Höhepunkt erreicht.

In den 1820er-Jahren expandierte das Unternehmen mit der Gründung von Filialwebereien und Spinnereien in Steinen, Zell und Schönau, dem Ursprung der späteren Zell-Schönau AG. 1830 beschäftigten die zu Koechlin gehörenden Textilbetriebe in Baden und Elsass bereits 5000 Arbeiter. In Baden brachte dann der – im Vergleich zur Gründung des Deutschen Zollvereins ab 1833 (Wirkung ab 1834) – verzögerte Beitritt des Großherzogtums einen zusätzlichen Industrialisierungsschub, weil Unternehmen aus der Schweiz und dem Elsass mit neuen Fabrikgründungen vor allem im Wiesental gewissermaßen über die ab 1836 in Kraft tretende neue Zollgrenze „sprangen“, um nicht den wachsenden deutschen Markt zu verlieren. Eine andere Strophe des Badnerliedes spiegelt auch dies wider:

Im Wiesental Fabriken stehn,
wie Schlösser klar und hell,
Rauchfahnen aus Kaminen wehn,
von Lörrach bis nach Zell.

Entwicklungen der Moderne

Das Lörracher Unternehmen hat seine Wurzeln nie vergessen: Unter dem Namen „Koechlin, Baumgartner & Cie.“ (KBC) besteht es bis heute und führt seine Geschichte auf das Jahr 1752 zurück, als Philipp Jakob Oberkampf es als Indienne- Fabrik gründete, die im folgenden Jahr von Friedrich Küpfer übernommen und von dessen Sohn weitergeführt wurde. Viele Episoden ranken sich um seine lange Geschichte, darunter die, dass Küpfer Gewinne seiner Textilfabrik mit Laborversuchen zur Herstellung von Gold „verspielt“ habe.

Die Neugründung des Lörracher Unternehmens 1808/09 war ein Nukleus der Industrialisierung, es entwickelte sich prächtig. Auf der Pariser Weltausstellung erhielt es 1864 für seine Produkte eine Goldmedaille und entwickelte sich zu einer der größten Stoffdruckereien Europas mit Zweigwerken weltweit. Die Strukturkrise der Textilindustrie und wachsender Konkurrenzdruck hinterließen Ende des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren. Seit 2001 gehört KBC zur niedersächsischen Daun- Gruppe, einem der letzten Stoffdrucker in Deutschland, und setzt mit inzwischen 600 Mitarbeitern statt auf Massenproduktion vor allem auf kreative Produkte, die auch in kleineren Auflagen mit Hilfe modernster Digitaldruckmaschinen möglich sind. Zu seinen besonderen Spezialgebieten gehört die Ausrüstung von Segeltuchgeweben. Viele der Spinnakersegel bei berühmten Segelrennen rund um den Globus stammen aus Lörrach.

Und in St. Blasien

Ebenso 1809 und doch unter ganz anderen Rahmenbedingungen setzte die Industrialisierung im ehemaligen Kloster St. Blasien ein: Mit der von Napoleon eingeleiteten Säkularisation waren die Klöster aufgelöst worden, die Gebäude und das Vermögen dem Fiskus zugefallen. Die staatliche Domänenverwaltung suchte eine neue Verwendung für die Gebäude, die auch den Unterhalt der früher von und mit der Klosterwirtschaft lebenden Menschen sichern sollte. Nur eine höchst vage Idee, dass "Industrialisierung" hier Abhilfe schaffen könnte, hatten wohl auch badische Beamte – klare Vorstellungen über Ziele und Wege dahin hatten sie jedoch nicht.

Umso beachtlicher ist vor diesem Hintergrund die erfolgreiche Gründung eines industriellen Unternehmens in diesem abgeschiedenen Klosterort. Im Mai 1808 wurde der Verkauf der Klostergebäude annonciert, Anfang 1809 meldeten die Brüder Bodmer aus Zürich ihr Interesse zur Gründung einer Maschinenfabrik an. Johann Georg Bodmer galt als genialer Techniker, sein Bruder Johann Caspar jedoch als eher zwielichtig, nicht nur weil er schon mit dem Kupfer des Klosterdaches zu spekulieren begonnen hatte, bevor irgendein Kaufvertrag zustande gekommen war. Er schied als Partner aus, wenige Jahre später erregte er mit einer anderen Initiative rheinaufwärts Aufmerksamkeit.

Mit der Ausfertigung von Verträgen ließen sich die badischen Behörden Zeit, hatten sie doch mit Heinrich Düggli, ebenfalls aus Zürich, einen weiteren Kaufinteressenten, der in einem Teil der Klostergebäude eine Gewehrfabrik einrichten wollte. Anscheinend stieß sein Vorschlag auf größeres Interesse, denn ihm wurde, anders als Bodmer – ganz im Stile kameralistischer Wirtschaftspolitik – sogar die Zusage von staatlichen Aufträgen gegeben. Bodmer und Düggli hatten es eiliger als die badischen Beamten, beide richteten ihre Fabriken bereits ein, bevor sie die notwendigen Verträge hatten: Bodmer ab Juli, Düggli ab Dezember 1809.

Düggli scheiterte rasch: Er hatte gesetzeswidrig Arbeiter einer französischen Gewehrfabrik in Mutzig abgeworben und musste daher schließen, bevor seine Produktion richtig in Gang gekommen war.
 

Unternehmerische Auf- und Niedergänge

Bodmer brachte zwar ein französisches Patent auf eine von ihm entwickelte Spinnmaschine mit, erhielt die erforderliche behördliche Genehmigung aber erst, nachdem der Karlsruher Hofbankier David Seligmann sich – wie er selbst bekannte – "aus Liebhaberei für Industrie" an Bodmers Unternehmen beteiligte, also für das notwendige Kapital sorgte. Den Bedenken wegen des entlegenen Standorts wurden die günstigen Bedingungen bezüglich Gebäude, Wasserkraft, Löhnen, Holz- und Eisenpreisen entgegengehalten. Die „St. Blasische Gesellschaft“ („Société de St. Blaise“), wurde im November 1810 gegründet und umfasste 1812 eine Maschinenfabrik (Schmiede, Schlosserei, Schreinerei, Gießerei und Dreherei mit insgesamt rund 200 Mitarbeitern) und eine mechanische Spinnerei mit 40 Beschäftigen (darunter Kinder), die mehr den Charakter eines Vorführbetriebes für die Kaufinteressenten von Spinnmaschinen hatte.

Sogar eine Erweiterung beider Betriebe war bereits technisch vorbereitet: So standen 48 PS Wasserkraft der Alb zur Verfügung, also ausreichend Antrieb für Spinnmaschinen in drei Stockwerken des Klostergebäudes. Diese wurden aber zunächst nicht in vollem Umfang benötigt, weil Bestellungen zurückhaltender eingingen als erwartet, denn die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen hatten sich verschlechtert. Bodmer eröffnete darum als dritten Zweig seines Unternehmens auch die Gewehrfabrik, nachdem die badische Regierung ihm 1813 eine Absatzgarantie für deren Produkte gegeben hatte. Nach Ende der Napoleonischen Ära trat wirtschaftliche Erholung ein, die Unternehmen waren nun besser ausgelastet. Die Fabrik in St. Blasien beschäftigte 1816 fast 600, fünf Jahre später schon rund 800 Menschen. Anfang des 19. Jahrhunderts hätten die Badener in ihrem Lied auch singen dürfen … in St. Blasien die Fabrik …

Bodmer selbst verlor allerdings allmählich das Interesse an seinem Unternehmen. Er interessierte sich mehr für technische Fragen als für seine Rolle als Unternehmenschef. Darüber hinaus wuchsen die Meinungsverschiedenheiten mit seinem Geldgeber und Kompagnon Seligmann, so dass er 1822 St. Blasien ganz verließ. Maschinen- und Gewehrfabrikation traten in den folgenden Jahren gegenüber der Spinnerei zurück. Allerdings geriet auch diese seit der schweizerischen Gründungswelle von Textilunternehmen auf badischem Territorium im Zusammenhang mit Badens Beitritt zum Deutschen Zollverein unter größeren Konkurrenzdruck. Über hundert Jahre später, unter den Schwierigkeiten der Weltwirtschaftskrise ab 1929, wurde das Unternehmen schließlich eingestellt.

Die "Steh-fahr-nie" vom Bodensee

An dieser Stelle ist ein Exkurs zu einem anderen Erinnerungsort und zu Johann Caspar Bodmer, dem zwielichtigen Bruder von Johann Georg angebracht: Nachdem er in England erste von dem Amerikaner Robert Fulton entwickelte, mit Dampfkraft angetriebene Schiffe erlebt hatte, wollte er diese Idee auf den Bodensee übertragen. 1817 begann er in Konstanz mit Unterstützung des Großherzogs von Baden und dem Aktienkapital eines eigens von Bodmer gegründeten Schifffahrtsunternehmens den Bau eines Dampfschiffs. Doch aus der nach der Großherzogin getauften „Stephanie“ wurde schon nach der Jungfernfahrt im April 1818 im Volksmund spöttisch die „Steh-fahr-nie“, weil das Schiff mit einer viel zu schwachen Dampfmaschine ausgerüstet war. Schon drei Jahre später wurde sie verschrottet. Johann Caspar Bodmer hatte seinen Ruf vollends verspielt und flüchtete, von seinen Aktionären verfolgt, ins württembergische Ausland. Ihm blieb lediglich der Ruf, es immerhin als Erster versucht zu haben.

Erfolgreicher war dann erst der Impuls auf der württembergischen Seite des Bodensees, der von dem Stuttgarter Verleger Cotta ausging und vom württembergischen König unterstützt wurde. Der auf dessen Name getaufte Schaufelraddampfer "Wilhelm" lief 1824 von Friedrichshafen zu seiner Jungfernfahrt aus und wurde – trotz anfänglichen Spotts – ein Erfolg: Das Schiff war bis 1848 in regelmäßigem Betrieb.

Sonderstellung im Dreiländereck

In Baden setzte die Industrialisierung insgesamt zwar etwas später ein als in Sachsen und am Niederrhein, doch hat es eine Sonderstellung: Schließlich war das von Johann Georg Bodmer errichtete Unternehmen in St. Blasien die erste mechanische Baumwollspinnerei Badens. Seine Maschinenfabrik gilt als die älteste auf deutschem Boden und die Gewehrfabrik war eine der am weitesten mechanisierten Europas.

Worauf ist diese Sonderstellung zurückzuführen? Säkularisierte Klöster standen vielerorts leer, aber nur die wenigsten davon wurden Fabrikstandorte. Traditionelle, verlagsmäßig organisierte Heimgewerbe gab es in vielen Mittelgebirgen, auch das entsprechende Knowhow von Menschen aus diesen vorindustriellen Gewerben sowie Wasserkraft, aber nicht zwangsläufig entstand dort auch Industrie. Es bedurfte auch der Unternehmerpersönlichkeiten wie Bodmer und Koechlin. Aber ein entscheidender Faktor dürfte darin liegen, dass es im neu entstehenden Dreiländereck bereits ein bedeutendes Textil- und Handelszentrum um Mülhausen bzw. Basel gab. Und tatsächlich hatte ja auch Bodmer für den Absatz seiner Spinnmaschinen von Anfang an mehr das Elsass und Frankreich im Auge als Baden oder die Schweiz. Das Entstehen erster frühindustrieller Fabrikzentren in Lörrach und St. Blasien ist daher nur aus länderübergreifender Sicht zu erklären.

Die Ausstrahlung von Mülhausen und Basel

Im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts war in Mülhausen ein wahres Zentrum des vorindustriellen Textilgewerbes entstanden, mit Spinnereien, Webereien und leistungsfähigen Stoffdruckereien. Die Stadt war Enklave in doppelter Hinsicht: Einerseits eidgenössische Stadtrepublik inmitten des französischen Sundgau, andererseits calvinistische Insel umgeben von überwiegend katholischen Territorien. Sie boomte spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg als politisch neutraler und eidgenössisch privilegierter Handelsplatz. Frankreich hatte, ganz in Stile des Merkantilismus, die Imitation von Baumwolldruckverfahren zum Schutz seines Ostindienhandels 1686 streng verboten, aber im schweizerischen Mülhausen griff dieses Verbot nicht.

Hier wurde 1746 eine erste Indienne-Druckerei gegründet und hier gab es bis 1787 bereits 26 baumwollverarbeitende Betriebe, darunter 19 Stoffdruckmanufakturen. Die wirtschaftliche Stärke der Stadtrepublik wurde paradoxerweise Ursache für den Verlust ihrer politischen Eigenständigkeit: Nach der französischen Freigabe der Baumwolldruckerei 1770 entstanden auch im Elsass außerhalb von Mülhausen zahlreiche Kattundruckereien. Diese mussten die zollpolitischen Sonderrechte der Stadtrepublik als ungerechtfertigten Konkurrenzvorteil ansehen und zwangen die Stadt schließlich in einer zollpolitischen Blockade zum Anschluss an Frankreich (ab 1798).

Dieser war letztlich nicht zu deren Nachteil, denn er gab einerseits den Fabriken der Stadt die Möglichkeit zur Ausdehnung auf die wasserreichen Vogesentäler, andererseits eröffnete er langfristig den französischen Markt. Schließlich konnte sich Mülhausen unter dem Schutz der Kontinentalsperre, also ohne die englische Konkurrenz fürchten zu müssen, zum Zentrum des kontinentaleuropäischen Indienne-Handels entwickeln. Die wirtschaftliche Bilanz dieser Ära war außerordentlich: Zwischen 1800 und 1815 entstanden in Mülhausen insgesamt 29 Betriebe neu, im ganzen Elsass waren im Jahr 1811 rund 70 000 Baumwollspindeln mechanisch angetrieben, davon 70 Prozent im Oberelsass.

Textilmaschinenbau

Es war nicht einfach, die Maschinenausstattung für diese Textilfabriken zu erwerben: England, das Mutterland der Industrialisierung, hatte 1774 die Ausfuhr von Maschinen und Werkzeugen für die Baumwollbearbeitung, 1781 auch die von Plänen und Modellen für Textilmaschinen und 1782 von Druckformen u. a. auch für den Baumwolldruck streng verboten; ebenso wurde die Auswanderung von industriellen Fachkräften unterbunden. Auch wenn diese Maßnahmen zwar halfen, die Übernahme englischer Technologie zu verzögern, so konnten sie diese doch nicht verhindern. Denn Schmuggel und Nachbau florierten, eine zunehmende Zahl von Handwerkern (Schlosser, Schreiner usw.) spezialisierte sich auf die maschinelle Ausrüstung und auf alle anfallenden Reparaturen in Spinnereien und Webereien und nannte sich Mechaniker.

Die Maschinenindustrie ging allerdings weniger aus den Betrieben dieser Mechaniker hervor als aus Textilbetrieben und Gießereien. Der entscheidende Übergang von der Hand- zur Maschinenspinnerei vollzog sich unter dem Schutz der Blockade vor englischer Konkurrenz. Die ersten Spinnmaschinen stammten aus England, allmählich begannen Spinnereien mit dem Eigenbau von Textilmaschinen, zunächst für den Eigenbedarf, dann auch auf Bestellung. Die 1805 in Zürich gegründete Spinnerei Escher, Wyss & Cie., in der übrigens auch Bodmer seine Erfahrungen gesammelt hatte, baute von Anfang an eigene Maschinen nach englischen Modellen.

Für das Elsass werden erste Versuche zum Bau eigener Textilmaschinen auf 1817/18 datiert: Die Gebrüder Risler hatten 1817 eine Spinnerei gegründet mit angeschlossener Werkstatt für den Eigenbedarf, die 1818 um eine Maschinenbauwerkstatt erweitert wurde. Vermutlich hatten sie von Anfang an auch Nachfrage nach einer von ihnen entwickelten Druckmaschine. Einen wesentlichen Anteil am Transfer modernster englischer Textiltechnik, und zwar weit über das Dreiländereck hinaus, hatte dann die 1826 in Mülhausen gegründete große Maschinenfabrik André Koechlin & Cie. (AKC).

Ettlingen als Beispiel für Technologietransfer

Eine der spektakulären Neugründungen im Deutschen Zollverein war, kaum zehn Jahre später, im Jahr 1836 die Spinnerei und Weberei Ettlingen am Rande der Oberrheinebene bei Karlsruhe. Sie war bei ihrer Gründung 1836 die erste Aktiengesellschaft und das größte Unternehmen der Textilindustrie im ganzen Großherzogtum Baden – und bis in die 1880er- Jahre die größte Fabrik des Großherzogtums überhaupt. Die Maschinenfabrik AKC wickelte hier eines ihrer größten Geschäfte ab. Vorbild für dieses Geschäft war die erste Aktiengesellschaft der französischen Baumwollindustrie im elsässischen Huttenheim nördlich von Sélestat (Schlettstadt), die seit ihrer Neuausrüstung mit AKC-Maschinen Anfang der 1830er-Jahre immense Gewinne erzielt hatte.

Der in Mülhausen geborene Johann Vetter-Koechlin, damals bereits Inhaber einer Spinnerei und Weberei in Zürich, tat sich – bewogen durch die Bildung des Zollvereins – mit den Ettlinger Papierfabrikanten Franz und Florian Buhl zusammen, die übrigens auch Kunden Bodmers in St. Blasien und seit 1829 Kunden von AKC gewesen waren. Gemeinsam überzeugten sie das Karlsruher Bankhaus Haber & Söhne, die notwendige Finanzierung der geplanten Textilfabrik zu gewähren. AKC lieferte die Maschinenausstattung, und Mechaniker aus Mülhausen stellten mit Unterstützung von Ettlinger Arbeitern die Maschinen auf und richteten sie ein. Elsässischer Einfluss prägte also den Beginn dieses Unternehmens auf fast allen Ebenen.

Als sich beispielsweise nach Inbetriebnahme der Fabrik (Frühjahr/Sommer 1838) herausstellte, dass die Spezialisten von AKC bei ihren Berechnungen von einem stetigeren Wasserfluss der Alb ausgegangen und deren Wasserkraft falsch berechnet hatten, installierten sie eine erste, zusätzliche Dampfmaschine, damit das neue Unternehmen mit der vollen Kapazität aller 750 installierten Webstühle arbeiten konnte. Die Mitwirkung von AKC auch bei der Anwerbung und Einarbeitung der neuen Belegschaft war selbstverständlich, bis hin zur Ausarbeitung von Arbeitsordnungen. Dass Koechlins Firma auch Wert darauf legte, die Maschinentransporte in eigener Verantwortung zu betreuen, ist exemplarisch für deren Erfahrungen mit Unwägbarkeiten im Einzelnen. Transportrisiken sollten überschaubar sein, um Gewährleistungsrisiken soweit wie möglich auszuschließen.

Für AKC blieb es nicht bei diesem Gründungsgeschäft. Mülhausen war auch in der Folge wichtigster Lieferant in Ettlingen, bei Betriebserweiterungen ebenso wie bei Neu- oder Ersatzinvestitionen. Ettlingen galt weithin geradezu als Musterunternehmen: Es betrieb 1850 allein mehr als die Hälfte aller Webstühle in Baden, beschäftigte 28 Prozent aller Arbeiter in badischen Baumwollfabriken und produzierte mehr als ein Fünftel des Warenwerts dieser Branche in Baden. Tatsächlich war Ettlingen darum auch ein Musterbeispiel für viele weitere Unternehmen, deren Gründung sich im Rahmen derartiger Gründungsgeschäfte vollzog. Sie sind Beispiele für den erfolgreichen Transfer von Knowhow und Technologie über Landesgrenzen hinweg.

Der Eisenbahnbau

Mülhausen war das industrielle Zentrum am Oberrhein und die von dort ausgehenden Initiativen wurden überregional beachtet. Dies gilt auch für den Eisenbahnbau. 1825 wurde in England die 39 km lange Linie Stockton–Darlington eröffnet, 1830 die 48 km lange zwischen Manchester und Liverpool. In Frankreich wurden Dampflokomotiven erstmals 1830 (auf der 1828 mit Pferdebahn eröffneten) Strecke von Saint-Étienne nach Lyon eingesetzt. Inzwischen wurden auch im Elsass Pläne für den Eisenbahnbau erörtert. Die Idee einer Linie Basel–Straßburg–Nantes gab es schon 1832, und 1833/34 lagen in Mülhausen Pläne für eine Strecke von Saarbrücken nach Straßburg auf dem Tisch.

Es war von großem wirtschaftlichem Interesse, die Kosten für den Kohletransport zu vermindern, der bis Straßburg über Straßen und von dort bis Mülhausen über den Rhein-Rhône-Kanal erfolgte. Leichter umsetzbar als diese Großprojekte war der von Nicolas Koechlin 1835 initiierte Antrag zum Bau und Betrieb einer Bahn für die 20 km lange Strecke zwischen Mülhausen und Thann, einer Verbindung der beiden wichtigsten elsässischen Industriezentren, die zudem noch weitere wichtige Industriestandorte berührte.

Die weiteren Schritte folgten rasch: die Gründung einer Aktiengesellschaft unter Führung Mülhausener Unternehmer 1836 und schon im September 1839 die Eröffnung der Strecke nach nur 17-monatiger Bauzeit. Daneben begann fast gleichzeitig die Arbeit an der Strecke Straßburg–Basel, die schon 1841 fertiggestellt war. Das Elsass verfügte damit seit Anfang der 1840er-Jahre über eines der für damalige Verhältnisse modernsten Verkehrsnetze Kontinentaleuropas. AKC erhielt den Haupanteil aller Aufträge an Lokomotiven und Waggons für beide Linien und war schon 1850 alleiniger Hersteller von Lokomotiven im Elsass. Es hatte bereits 20 Lokomotiven sowie an die 200 Waggons hergestellt (1839–1841), bis auf badischer Seite im Jahr 1834 Emil Kessler und Theodor Martiensen in Karlsruhe ihre Maschinenfabrik gründeten, die dann im Dezember 1841 der Badischen Staatseisenbahn die erste Dampflokomotive "Badenia" lieferte.

Ausbau der Infrastruktur

In Baden dauerten die Entscheidungen zur Eisenbahnpolitik länger als im Elsass: Der Vorschlag zu einer Eisenbahnlinie kam 1833 erstmals aus Mannheim, sodann setzte sich auch Friedrich List für deren Schaffung ein. Aber letztlich führte erst der Blick auf die andere Rheinseite ins benachbarte Elsass ab 1835/36 zur Bildung einer Kommission und endlich 1838 zu zielführenden Beschlüssen des Badischen Landtags. Die erste deutsche Linie zwischen Nürnberg und Fürth war schon drei Jahre zuvor, am 7. Dezember 1835 in Betrieb genommen worden.

Inzwischen war die großherzogliche Regierung wegen ihrer zögerlichen Haltung in die Kritik geraten. Tatsächlich war die Abwanderung von Verkehrsströmen ins Elsass zu befürchten, denn dort wurde zielstrebiger geplant und Eisenbahnen wurden auch unter strategischen Gesichtspunkten betrachtet. Als erste Teilstrecke für die geplante rechtsrheinische Verbindung nach Süden wurde am 12. September 1840 die 18,5 km lange Strecke Mannheim– Heidelberg in Betrieb genommen. Deren Bau war nach den Landtagsbeschlüssen im Herbst 1838 begonnen worden.

Die weiteren Teilabschnitte folgten: bis Karlsruhe 1843, Offenburg 1844, Freiburg 1845, Basel 1855 und dann den Hochrhein hinauf bis Konstanz 1863. Die heute so wichtige Verbindung zwischen Deutschland und der Schweiz über Basel SBB wurde erst 1873 eröffnet. Es entspricht wohl mindestens in Mannheim der damaligen Bewertung der Bedeutung von Schiene und Wasserstraße, dass am 12. September 1840 die erste Eisenbahnstrecke zwar vier Wochen vor der Eröffnung des neuen Mannheimer Hafens in Betrieb genommen wurde, jedoch ganz ohne besondere Feierlichkeiten.

Tullas Rheinkorrektion und Schifffahrt

Am 17. Oktober dieses Jahres wurde die Eröffnung des neuen Mannheimer Hafens unter den Augen der großherzoglichen Familie prachtvoll inszeniert, einschließlich der Taufe eines neuen Dampfers auf den Namen „Stadt Mannheim“. Der Hafen galt – nach einer Bauzeit von sechs Jahren und einem noch längeren Ringen um dessen Realisierung als der größte, leistungsfähigste und modernste Rheinhafen – vor allem auch zukunftsfähig für die nun immer wichtiger werdende Dampfschleppschifffahrt. Lange genug hatte es gedauert bis zu diesem großen Tag.

Die Bautätigkeit in diesen Jahren war immens, zumal in der Mannheimer Umgebung 1826 auch die Arbeiten an der Rheinkorrektion begonnen hatten. Gottfried Tulla, deren Initiator, erlebte sie noch, er starb 1828. Sein Leben lang hatte er für dieses gigantische Projekt gekämpft, zahlreiche Gutachten und Denkschriften verfasst, vor allem um die immensen Schäden der jährlich wiederkehrenden Überschwemmungen einzugrenzen und damit Bevölkerung, Ernten und Böden zu schützen. Selbst positive klimatische Folgen prognostizierte er.

Ganz im physiokratischen Sinne des 18. Jahrhunderts denkend, wonach die Wertschöpfung einer Volkswirtschaft nur im Agrarsektor erfolge, zielte er vor allem auf die Landesmelioration, also Trockenlegung und Entsumpfung, während die Verbesserung der Schifffahrtswege für ihn eher nachrangig war. Er dachte allenfalls an die Erleichterung der Treidelei rheinaufwärts, also des Schiffeziehens durch Menschen oder Zugtiere. Hafenanlagen und Fabriken kamen in seinen Visionen nicht vor.

Folgen für die Industrie

Tullas Projekt wird als das größte Bauvorhaben in Deutschland bewertet, das jemals geplant worden war. Es währte über ein halbes Jahrhundert, in Knielingen bei Karlsruhe 1817 begonnen und bei Istein 1876 schließlich vollendet. Der Rhein wurde zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge, von 345 auf 273 km gekürzt, dutzende von Durchstichen begradigten den jährlich neu mäandernden Fluss, 2200 Inseln und Inselchen wurden beseitigt. In jeder Phase der Arbeiten waren um die 3000 Arbeiter auf den Baustellen, wo notwendig auch hunderte von Soldaten, vor allem wegen des Widerstandes der Bevölkerung manchen betroffenen Rheindorfes. Insgesamt trug Tulla allenfalls unabsichtlich bzw. nebenbei zur Verkehrs- und Industrieentwicklung bei, auch wenn die Bedeutung seines Projekts für diese Entwicklungen nicht zu unterschätzen ist.

In Mannheim setzte mit dem neuen Hafen ein geradezu rasantes Wachstum ein. Der Güterumschlag vervierfachte sich bis 1845, das Hafenbecken wurde erweitert. Der industrielle Aufschwung Mannheims begann. Allein die Entwicklung der Einwohnerzahlen belegt dies anschaulich. Sie stieg von 22 000 bis 24 000 in den 1840er-Jahren auf 27 000 (1861), 40 000 (1871) und schließlich 79 000 (1890). Mannheim war eine Industriestadt und als Handels- und Güterumschlagsplatz groß geworden, als Standort für industrielle Ansiedlungen attraktiv: ein industrieller Aufschwung, dessen auch negative Folgen deutlich wurden. Selbst diese werden besungen im Badnerlied:

in Konstanz fließt der Rhein noch blau,
in Mannheim wird er grau …

Zwar ist nicht bekannt, wie und wann das Badnerlied entstand, es mag auch nicht von jedem geliebt werden – sei es wegen seiner romantisierenden Anklänge an großherzogliche Zeiten, sei es weil es auch ein Schwabenspottlied ist –, aber es hat zweifellos einen festen Platz in der Kultur des Landes. Als Druck ist es erstmals belegt Anfang des 20. Jahrhunderts, entstanden ist es vermutlich in den 1860er-Jahren.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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