Bebenhausen – Verfassung- und Gesetzgebung im Winterrefektorium (1946-1952)

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Bebenhausen, seit der Eingemeindung nach Tübingen (1974) mit 340 Einwohnern der kleinste Teilort der zweitkleinsten Universitätsstadt Baden-Württembergs – ein Erinnerungsort im drittgrößten deutschen Bundesland? Die bukolisch-idyllische „Perle des Schönbuchs“ – ein für die demokratisch-politische Kultur relevanter Kristallisationskern kollektiver Erinnerung im Südweststaat? Sollte hierfür gegebenenfalls genügen, dass im ehemaligen Kloster und Jagdschloss ein Kapitel der Gründungsgeschichte unseres Landes geschrieben wurde?

Inwiefern und inwieweit repräsentiert der Sitz eines ephemeren Landtags und zugleich „Behördenvorort“ der kurzlebigen Landeshauptstadt Tübingen eine südwürttembergisch-oberschwäbisch-hohenzollerische Regionalidentität oder gar ein landesgeschichtliches Erbe im weiteren Sinne? Wie viel historische Tiefenbohrung am Gedächtnistopos Bebenhausen ist andernfalls erforderlich, um den Quelltopf symbolischer Bedeutung und kollektiver Sinnstiftung freizulegen und sprudeln zu lassen?

Autor: Stefan Zauner

Der Text von Stefan Zauner erschien unter dem Titel „Bebenhausen - Verfassung- und Gesetzgebung im Winterrefektorium (1946–1952)“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Zisterzienserkloster zwischen Tübinger Pfalzgrafen, württembergischen Landesherren, Kaiser und Papst

In den 80er-Jahren des 12. Jahrhunderts gründete Pfalzgraf Rudolf I. von Tübingen am Südrand des Schönbuchs ein Kloster, in dem sich zunächst Mönche des Prämonstratenserordens niederließen. Schon 1190 übernahmen jedoch Zisterzienser aus Schönau bei Heidelberg die Abtei im Goldersbachtal, die wenig später vom Kaiser Holznutzungs- und Weiderechte sowie vom Papst eine Besitzbestätigung und Schutzzusage erhielt. Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts geriet das wohlhabende Kloster zunehmend unter den Einfluss der Grafen von Württemberg, die 1342 den überschuldeten Tübinger Pfalzgrafen ihre Stadt samt Burg abgekauft hatten. Hundert Jahre später führte eine Urkunde Bebenhausen als ein unter württembergischer Landeshoheit stehendes Kloster auf. Dieses wurde im Zuge der Reformation 1535 von Herzog Ulrich aufgelöst, das erkleckliche Klostervermögen sowie der Kirchenschatz eingezogen. Schon 1549 kehrte zwar der katholische Abt mit einem kleinen Konvent nach Bebenhausen zurück; das den Kämpfen der Glaubensspaltung geschuldete Interim währte allerdings nur elf Jahre.

Höhere evangelische Klosterschule des Herzogtums Württemberg

1556 richtete Herzog Christoph von Württemberg in Bebenhausen eine von vier höheren evangelischen Klosterschulen des Landes ein. 1560 übernahm daraufhin mit Eberhard Bidembach der erste protestantische Abt das Regiment. In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges führte das Restitutionsedikt von 1629 erneut zu einer vorübergehenden Rückkehr einiger Zisterziensermönche in den Schönbuch. Der Westfälische Frieden von 1648 setzte dann jedoch einen endgültigen Schlussstrich unter das monastische Leben katholischer Observanz. Zwei Jahre später erfolgte unter Abt Johann Valentin Andreae die Wiedereröffnung der in den Kriegswirren zeitweise geschlossenen evangelischen Klosterschule, die bis 1806 bestehen blieb. Nach ihrer Aufhebung durch den frisch gekürten König Friedrich I. von Württemberg nahm das theologische Seminar in Maulbronn die heimatlos gewordenen Klosterschüler aus Bebenhausen auf.

Königliches Jagdschloss und Bürgergemeinde

Friedrich I., König „von Napoleons Gnaden“, ließ ab 1807 das ehemalige Abtshaus der Klosterschule zum Jagdschloss ausbauen. 1819 übertrug sein Sohn und Nachfolger Wilhelm I. Bebenhausen mit allen Besitzungen dem württembergischen Königreich. Die etwa 200 Einwohner des Ortes erhielten 1823 die Möglichkeit, Grundstücke und Gebäude innerhalb des Klosterbezirks zu erwerben. Sie schlossen sich daraufhin zu einer bürgerlichen Dorfgemeinde zusammen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten Rückkauf und Restaurierung der mittlerweile baufällig gewordenen Klostergebäude durch König Karl und die Einrichtung weiterer königlicher Privatgemächer. Zwischen 1891 und 1918 ließen Wilhelm II. und dessen Gemahlin Charlotte die Räume des Jagdschlosses modernisieren und neu ausstatten.

Als passionierte Jäger nutzten sie Bebenhausen gerne und häufig zu Aufenthalten mit königlichen Jagdgesellschaften. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der erzwungenen Abdankung des Königs im November 1918, der jetzt den Titel eines „Herzogs von Württemberg“ annahm, wurde dem in der Bevölkerung weithin beliebten Paar vom Volksstaat Württemberg die lebenslange Nutzung des Schlosses im Goldersbachtal eingeräumt. Hier starb Wilhelm im Oktober 1921, Charlotte im Juli 1946. Nach ihrem Tod ging die ehemalige Klosteranlage auf das unter französischer Besatzungsherrschaft stehende Württemberg-Hohenzollern über.

Von der französischen Besetzung 1945 zur Gründung des Südweststaats 1952

Dem Einmarsch US-amerikanischer und französischer Truppen in Südwestdeutschland im Frühjahr 1945 folgte ein wochenlanges Tauziehen um Einflusssphären zwischen den beiden ungleichen Verbündeten. Ende Juni schließlich akzeptierte Paris die von den übermächtigen Amerikanern gewünschte Grenzziehung südlich der Autobahn Karlsruhe– Stuttgart–Ulm. Die „Zone Française d’Occupation“, die von dem in Baden-Baden ansässigen „Gouvernement Militaire“ unter General Pierre Koenig regiert wurde, ähnelte zwei mit den Spitzen aufeinander stehenden Dreiecken: Das nordwestliche umfasste die 1946 zum Land Rheinland-Pfalz vereinigten Gebiete; das südöstliche bestand einerseits aus Südbaden bis zur Nordgrenze des Kreises Rastatt, andererseits aus dem um die vormals preußischen (und katholischen) Hohenzollerischen Lande (Hechingen und Sigmaringen) sowie verwaltungsmäßig um den bayerischen Landkreis Lindau erweiterten südlichen Württemberg mit 15 Landkreisen.

Zur Hauptstadt dieses von den Pariser Politstrategen am geringsten geschätzten Teils ihrer Besatzungszone avancierte Tübingen. Hier wurde am 16. Oktober 1945 von Gouverneur Guillaume Widmer das „Staatssekretariat für das französisch besetzte Gebiet Württembergs und Hohenzollerns“ als provisorische Auftragsverwaltung eingesetzt, an dessen Spitze mit dem frankofonen Sozialdemokraten und habilitierten Juristen Carlo Schmid eine herausragende politische Persönlichkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte stand.

Die Beratende Landesversammlung

Die Wieder- bzw. Neuzulassung politischer Parteien sowie die Genehmigung von Kommunal- und Regionalwahlen erfolgten in der französischen Zone später als in den anderen Besatzungsgebieten. Bei den Gemeinderatswahlen vom 15. September 1946 wurde die neu gegründete CDU mit knapp 39 Prozent auf Anhieb stärkste politische Kraft in Württemberg-Hohenzollern. Vier Wochen später steigerte sie bei den Wahlen zu den Kreisversammlungen ihren Stimmenanteil auf fast 63 Prozent. Dies bildete die Ausgangsbasis für die von Gouverneur Widmer verfügte Einrichtung einer Beratenden Landesversammlung, die als Vorparlament und Verfassunggeber des noch zu konstituierenden Landes Württemberg-Hohenzollern agieren sollte.

Deren 68 Mitglieder (darunter drei Vertreter Lindaus mit eingeschränkten Rechten) wurden von sämtlichen Kreisdelegierten und den Gemeinderäten der 19 Städte mit über 7000 Einwohnern nach Listen gewählt. Kandidieren durften ebenfalls nur Mitglieder der Gemeinderäte und Kreisversammlungen sowie Bürgermeister und Landräte. Bei der mithin indirekten, zentral durchgeführten Wahl am 17. November 1946 entfielen 61,6 Prozent der Stimmen auf die Christdemokraten, die 42 Mitglieder (darunter zwei aus Lindau) in die Beratende Landesversammlung entsandten, 20,6 Prozent auf die SPD (14 Mandate), 11,8 Prozent auf die liberale DVP (acht, darunter ein Lindauer Vertreter) und 5,9 Prozent auf die KPD (vier Mandate).

Am 22. November trat das Vorparlament zu seiner konstituierenden Sitzung im (beheizten!) Winterrefektorium des ehemaligen Klosters Bebenhausen zusammen. Der spätere Ministerpräsident Gebhard Müller (CDU) befand rückblickend: „Die Wahl dieses Ortes erwies sich in der Zukunft als außerordentlich glücklich, eine Empfehlung des französischen Gouverneurs ging ihr voraus.“ Außer der Beratenden Landesversammlung tagten seit Herbst 1946 auch der Landeswirtschaftsrat, der Verwaltungs- und Kompetenzgerichtshof (bis 1959) und das Oberlandesgericht in Bebenhausen, das damit zum „Behördenvorort“ der nahen Landeshauptstadt Tübingen avancierte.

Zusammensetzung und Ziele der Versammlung

Hauptaufgabe der Beratenden Versammlung war die Erarbeitung einer Landesverfassung. Zu Fragen, die ihr das Staatssekretariat vorlegte, durfte sie allenfalls Stellung nehmen, jedoch keine Beschlüsse fassen oder eigene Anträge einbringen. Jegliche Kritik an der Militärregierung war den Abgeordneten strikt untersagt. Zur Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs wurde ein 18-köpfiger Ausschuss gebildet, in dem elf Christdemokraten die absolute Mehrheit bildeten. Am 12. Dezember 1946 trat der Ausschuss erstmals zusammen und erteilte dem Rottweiler Rechtsanwalt Lorenz Bock (CDU) den Auftrag, mit Hilfe des ehemaligen Reichsgerichtsrats Emil Niethammer (ebenfalls CDU) einen Beratungsentwurf vorzulegen. Den Vorschlag der linken und liberalen Opposition, die im Wesentlichen von Carlo Schmid ausgearbeitete Verfassung Württemberg-Badens zu übernehmen, um die angestrebte Wiederherstellung (Gesamt-)Württembergs und dessen Zusammenschluss mit (Gesamt-)Baden zu erleichtern, lehnte die CDU-Mehrheit als „entwürdigend“ ab, weil man hier „doch wesentlich andere Vorstellungen“ habe.

Vom 10. März 1947 an beriet der Verfassungsausschuss über einen von Lorenz Bock und Emil Niethammer vorgelegten Entwurf, wobei sich rasch zeigte, dass dieser außerhalb der CDU nicht konsensfähig war. Insbesondere die als autoritär empfundene Präsidialverfassung mit einem vom Volk direkt zu wählenden, gegenüber dem Landtag weitgehend unabhängigen Staats- und Regierungschef sowie einem Notstandsartikel à la Weimarer Republik, die vorgesehene Zweite Kammer mit auf Lebenszeit vom Staatspräsidenten ernannten Senatoren, das deutlich religiös geprägte Staatsverständnis und die obligatorische Konfessionsschule stießen bei Sozialdemokraten, Liberalen und Kommunisten auf vehemente Ablehnung. Die scheinbare Kompromisslosigkeit der Mehrheitsfraktion, gepaart mit dem von der Militärregierung plötzlich ausgeübten Zeitdruck, erhitzte die Gemüter und trug zur Verhärtung der Fronten bei. Nachdem die Abgeordneten der Oppositionsparteien aus Protest den Ausschuss verlassen hatten, verabschiedete das christdemokratische Rumpfgremium den eigenen Entwurf und präsentierte ihn der Militärregierung.

Diese lehnte jedoch den Text umgehend mit der Begründung ab, dass die vorgesehenen Verfassungsbestimmungen nicht die unverzichtbaren Garantien einer Demokratie enthielten, namentlich den Volkswillen bei der Organisation der Staatsgewalt nur ungenügend berücksichtigten. Die schallende Ohrfeige des Gouverneurs – ein einzigartiger Vorgang in der deutschen Nachkriegsgeschichte – brachte nicht nur die Mehrheitsfraktion zur Räson, sondern ließ auch in der SPD den Willen zur Konfrontation erlahmen, zumal CDU und SPD im Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung weithin übereinstimmende Vorstellungen vertraten. Die gemeinsame Regierungsarbeit und der ausgleichende Einfluss ihrer Protagonisten Gebhard Müller und Carlo Schmid wirkten dabei beschleunigend. Schließlich kam ein Verfassungstext zustande, den die Beratende Landesversammlung nach einer Marathonsitzung in den Nachtstunden des 21./22. April 1947 mit den Stimmen von CDU und SPD, gegen die Opposition der Liberalen und Kommunisten, verabschiedete.

Verfassungsentwurf im zweiten Anlauf verabschiedet

Der im zweiten Anlauf vom Vorparlament verabschiedete Entwurf entsprach in weiten Teilen den Verfassungen anderer deutscher Länder und war großenteils an der von Württemberg-Baden orientiert, allerdings stärker christlich-religiös und von konservativen Wertvorstellungen (z. B. Familie und Erziehung betreffend) geprägt. Das Einkammerparlament sollte umfassende Rechte gegenüber dem Staatspräsidenten und der Regierung genießen. Als Staatsfarben wählte man das Schwarz-Rot des alten Volksstaates bzw. Königsreichs Württemberg und nicht das von Lorenz Bock und Emil Niethammer vorgeschlagene Schwarz-Gold, das an die habsburgische Vergangenheit Oberschwabens erinnern sollte. An die Stelle der zunächst vorgesehenen Konfessionsschule war die christliche Volksschule getreten, deren bekenntnismäßige oder ökumenische Ausgestaltung im Einzelfall dem Elternwillen vorbehalten blieb.

Der von Gebhard Müller stammende Verweis auf die Zugehörigkeit Württemberg-Hohenzollerns zu einer „deutschen Bundesrepublik“ (die ja noch nicht existierte) sollte die vom „Gouvernement Militaire“ praktizierte Abschottung der eigenen Zone konterkarieren, teilte zugleich aber die von den Franzosen nachdrücklich vertretene Erwartung einer föderalistischen Staatsordnung des künftigen Deutschland. Die Vertreter Hechingens und Sigmaringens hatten immerhin erreicht, dass die Hohenzollerischen Lande Bestandteil des Staatsnamens blieben. Auch die in der Verfassung angekündigte staatsrechtliche Lösung der schwelenden „Hohenzollernfrage“ stellte zumindest einen Teilerfolg weitergehender Ambitionen dar, der 1950 mit einer gesetzlichen Regelung der Selbstverwaltung in diesem Landesteil seine Bestätigung erfuhr.

Am 18. Mai 1947 stimmte die Bevölkerung zwischen Nordschwarzwald und Schönbuch, Neckar-Alb und Bodensee-Oberschwaben über den Verfassungsentwurf der Beratenden Landesversammlung ab. Zugleich hatte sie Gelegenheit, den ersten (und einzigen) Landtag von Württemberg-Hohenzollern zu wählen. Die Verfassung wurde mit knapp 70 Prozent der abgegebenen Stimmen (bei einer Stimmbeteiligung von etwa 62 %) angenommen und trat fünf Tage später in Kraft. Aus der Landtagswahl ging die CDU mit der absoluten Mehrheit von 32 (34) der 60 (62) Mandate hervor (zwei Vertreter Lindaus mit beratender Stimme). Die SPD entsandte zwölf, die DVP elf und die KPD fünf Abgeordnete.

Der Landtag in Bebenhausen: Das Parlament im Grünen

Am 3. Juni 1947 trat der Landtag zu seiner konstituierenden Sitzung in Bebenhausen zusammen. Wie schon in der Beratenden Landesversammlung, diente den Abgeordneten – zunächst ausschließlich Männer, später rückten zwei Frauen nach – das Winterrefektorium des ehemaligen Klosters als Plenarsaal. Der „Grüne Saal“ im vormaligen Jagdschloss war ihr Aufenthaltsraum, im „Blauen Saal“ fanden offizielle Veranstaltungen statt. Dem Landtagspräsidenten und der siebenköpfigen Landtagsverwaltung standen zwei Räume in der ersten Etage des früheren Gästehauses zur Verfügung. Die Fraktionszimmer auf demselben Stockwerk waren ebenfalls Privatgemächer König Wilhelms II. gewesen. Mehr als die Hälfte der Parlamentarier übernachtete im Anschluss an lange Sitzungen in den karg ausgestatteten Mönchszellen des ehemaligen Dormitoriums.

Die Verpflegung der Abgeordneten erfolgte nach Abgabe von Essensmarken in zwei örtlichen Gaststätten. Für Sitzungstage erhielten sie 20 Mark Tagegeld. Diäten (monatlich 285 DM) wurden erst 1949 und damit später als in den übrigen westdeutschen Landesparlamenten eingeführt. Das Mobiliar des Landtags stammte aus den Beständen des Klosters bzw. Jagdschlosses; nichts wurde hinzugekauft oder requiriert, lediglich die Tische im Plenarsaal mussten eigens angefertigt werden. Für die Bürger Württemberg- Hohenzollerns zahlte sich die Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit und Sparsamkeit ihrer Abgeordneten buchstäblich aus: Jeden der 1,2 Millionen Einwohner kosteten die Volksvertreter, statistisch betrachtet, nur 22 Pfennige pro Jahr. Damit verkörperte der Landtag in Bebenhausen den schwäbischen Tugendkomplex par excellence.

Auch an Fleiß mangelte es den Abgeordneten im ehemaligen Kloster keineswegs. Außer den Staatshaushaltsplänen wurden in der 1951 um ein fünftes Jahr verlängerten Legislaturperiode in 118 Sitzungen 235 Gesetze beraten. Unter denen, die verabschiedet wurden, betrafen die wichtigsten eine Bodenreform, die Einrichtung von Betriebsräten, das Schulwesen, die Kreisund Gemeindeordnung sowie eine Vielzahl von Regelungen zum Sozial-, Versicherungs- und Wirtschaftssystem.

Massive Konflikte mit der französischen Besatzungsmacht

Die Besonderheit des zeithistorischen Erinnerungsorts Bebenhausen ergibt sich jedoch nicht aus einer nüchternen Auflistung der legislativen Aktiva, sondern aus der spezifischen Machtkonstellation, welche die einheimischen Politiker in einen spektakulären Konflikt mit der französischen Militärregierung trieb. Diese verstand sich als Exekutive einer durch den Krieg und die deutsche Okkupation schwer geschädigten Siegermacht, die Kompensationen aus der eigenen Besatzungszone für berechtigt hielt. So wurden in einer ersten Requisitionswelle 1945/46 bei 1400 Industrie- und Handwerksbetrieben rund 20 000 Maschinen beschlagnahmt und nach Frankreich verbracht. Württemberg-Hohenzollern musste zudem bis September 1948 Zwangsabgaben aus der laufenden agrarischen und gewerblichen Produktion an Südbaden und Rheinland-Pfalz sowie für Exportzwecke, größtenteils nach Frankreich selbst, leisten.

Damit blieben der südwürttembergischen Bevölkerung beispielsweise nur 15 Prozent (1945) bis 35 Prozent (1947) der landeseigenen Fleischproduktion. Zu den schwersten Eingriffen in die naturräumliche und forstwirtschaftliche Substanz des Landes gehörte die Abholzung der Wälder, im Zuge derer bis 1949 über vier Millionen Festmeter Holz an Frankreich geliefert bzw. in andere Länder exportiert werden mussten.

Als Ende 1947 eine Demontageliste der drei Westmächte 60 Betriebe in Württemberg-Hohenzollern für den Total- und zehn für den Teilabbau vorsah, ging die CDU-Fraktion in Bebenhausen unter Führung Gebhard Müllers auf Konfrontationskurs zur Besatzungsmacht, indem sie die Niederlegung der Abgeordnetenmandate und den Rücktritt der Minister beschloss, falls sich das „Gouvernement Militaire“ unnachgiebig zeigen sollte. Dieses unterband mit allen Mitteln eine öffentliche Diskussion über die Demontageliste. Nachdem eine Denkschrift der Landesregierung an den Gouverneur monatelang unbeantwortet geblieben war, brachte eine parlamentarische Anfrage zur „immer rascher fortschreitenden Abholzung der Wälder“ im Frühjahr 1948 die Lawine ins Rollen.

Hintergründe und Machtgefüge

Den Hintergrund bildete die Wahrnehmung auf deutscher Seite, dass die Verantwortlichen in Paris und Baden-Baden von ihren amerikanischen und britischen Verbündeten zunehmend unter Druck gesetzt wurden, die Mitwirkungsrechte der einheimischen Politiker und Behörden auch in der französischen Zone tatsächlich auszuweiten und es nicht bei Ankündigungen zu belassen, denen keine konkreten Schritte folgten. Darüber hinaus zeichnete sich spätestens mit der Londoner Außenministerkonferenz im Frühjahr 1948 auch auf höchster politischer Ebene eine baldige grundlegende Änderung der Besatzungsverhältnisse in Westdeutschland ab.

Als nun der Tübinger Gouverneur Widmer die Beratung der parlamentarischen Anfrage zu den Holzeinschlägen Ende April verbot, beschloss das Abgeordnetenhaus seine Vertagung, trat also gewissermaßen in den Streik. Offenkundig unter dem Druck der internationalen Entwicklung und der kritischen Öffentlichkeit in den Nachbarzonen sah sich Widmer zum Einlenken gezwungen. Anfang Juni, zeitgleich mit dem Ende der Sechsmächtekonferenz in London, gestand er dem Landtag schriftlich zu, auch über die der Besatzungsmacht vorbehaltenen Angelegenheiten zu debattieren.

Damit hatte das Parlament in Bebenhausen zwar einen eindrucksvollen Erfolg erzielt, aber der Konflikt der südwürttembergischen Politiker mit der Militärregierung war noch nicht ausgestanden; die Peripetie stand erst bevor. Hiervon war der Landtag allerdings nur mehr indirekt betroffen.

Lösung des Konfikts durch Kompromisse

Am 30. Juli 1948 übergab Gouverneur Widmer der Tübinger Regierung eine Neufassung der Demontageliste, die dem Land praktisch keine Erleichterungen verhieß. Nach erfolglosen Verhandlungen und erregten internen Beratungen, die vom plötzlichen Tod des Staatspräsidenten Lorenz Bock überschattet wurden, beschloss das Kabinett unter einhelligem Beifall des Landtags am 6. August 1948 seinen Rücktritt. Das „Gouvernement Militaire“ versuchte zwar, mit Drohungen (Ausschluss von interzonalen Zusammenkünften wie dem Parlamentarischen Rat und von den Tagungen über eine Südweststaatgründung) die demissionierte Tübinger Regierung und den neugewählten Staatspräsidenten Gebhard Müller zur Botmäßigkeit zu zwingen. Dieser ließ jedoch seinen Widersacher Widmer mit einem Verfahrenstrick ins Leere laufen und lancierte zugleich eine umfassende Informations- und Propagandakampagne gegen die französische Besatzungspolitik, die im übrigen Deutschland und darüber hinaus ihre für Paris und Baden-Baden unangenehme Wirkung zeigte.

Nun setzte tatsächlich die seit Monaten angekündigte Wende in der französischen Besatzungspolitik ein: Nach und nach lockerte sich auch hier der reglementierende Zugriff auf die deutsche Gesetzgebungs- und Verwaltungstätigkeit sowie die weitgehende Abschottung der „Zone Française d’Occupation“. Nachdem sich die Westmächte im April 1949 auf eine wesentlich reduzierte Demontageliste geeinigt hatten, die für Württemberg-Hohenzollern etwa die Halbierung der abzubauenden Betriebe vorsah, beendete Staatspräsident Müller im Juni den passiven Widerstand gegen die Besatzungsherrschaft und die zehn Monate währende Regierungskrise, indem er – durch Wiedereinsetzung der seinerzeit zurückgetretenen, aber „geschäftsführend“ im Amt verbliebenen Minister – dem Landtag in Bebenhausen sein „neues“ Kabinett vorstellte. Damit war Württemberg-Hohenzollern zu geordneten politischen Verhältnissen zurückgekehrt und der lang anhaltende Konflikt um die Kompetenzverteilung zwischen Landesregierung und Landtag auf der einen und der französischen Besatzungsmacht auf der anderen Seite ausgestanden.

Die Geburt des Südweststaates

Mit Inkrafttreten des „Überleitungsgesetzes“ und der Geburt des Südweststaats am 17. Mai 1952 endete die Amtszeit der Regierung und des Landtags von Württemberg-Hohenzollern. Die Parlamentarier, die am 30. Mai zur Abschlusssitzung im Winterrefektorium zusammenkamen, verabschiedeten sich von der Gemeinde Bebenhausen mit einer Geldspende für die Anschaffung einer neuen Kirchenglocke, die nicht nur die im Krieg eingeschmolzene ersetzen, sondern auch eine bleibende Erinnerung an fünfeinhalb Jahre Verfassung- und Gesetzgebung im ehemaligen Kloster darstellen sollte.

Erinnerungsort Bebenhausen

Was repräsentiert, summa summarum, der Erinnerungsort Bebenhausen in landesgeschichtlicher Perspektive? Insgesamt: „wunderbar gemischte Stimmung“, um Mörike zu zitieren, der unter diesem Eindruck 1863 den Gedichtzyklus Bilder aus Bebenhausen verfasste. Lage und Größe der Ortschaft signalisieren Bodenständigkeit, Heimatverbundenheit, Provinzialität, naturnahes Idyll und Abgeschiedenheit. Zugleich stehen herausragende Persönlichkeiten wie Carlo Schmid und Gebhard Müller für Weltläufigkeit, zumindest gesamtstaatlich-nationale Prominenz und Bedeutung. Die Zeitumstände der Nachkriegsgesellschaft und des Wiederaufbaus unter schwierigsten Bedingungen, gepaart mit dem „Naturell“ der politischen Protagonisten, wecken Assoziationen mit äußerster Sparsamkeit, Bescheidenheit und preußisch-schwäbischer Pflichterfüllung.

Der Tagungsort der Parlamentarier – einst Zisterzienserabtei, dann evangelische Klosterschule – evoziert eine konfessionelle Rivalität, die am Ende doch in Ökumene einmündet, so wie das Beharren auf der staatlich verordneten Konfessionsschule schließlich dem Kompromiss einer christlichen Elternrechtsschule weichen musste, ohne den religiös geprägten Wertkonservatismus abzulegen. Doch das ehemalige Kloster war später zum königlichen Jagdschloss und schließlich, nach dem Untergang der Monarchie, zum Alterssitz eines bürgerlich-volksnahen Fürstenpaares geworden. Damit wandelte es sich spiegelbildlich zum Kristallisationskern einer republikanischen „Thronverehrung“, die womöglich ihren anachronistischen Ausdruck im Verfassungsprojekt eines Präsidialsystems mit Zweikammerparlament und Lebenszeitsenatoren fand.

Das Gesamttableau der Verfassung- und Gesetzgebung im Winterrefektorium durchzieht als roter (Leit-)Faden die ausgeprägte Kompromissbereitschaft der maßgeblich von Gebhard Müller und Carlo Schmid angeführten Großen Koalition in wichtigen innen-, sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen. Gespeist wurde solch innerer Zusammenhalt nicht zuletzt aus der Widerspenstigkeit gegenüber dem als despotische Fremdherrschaft empfundenen Regime der französischen Militärregierung. Schließlich steht der Gedächtnistopos Bebenhausen einerseits für die das Gegensätzliche betonende Abgrenzung gegenüber dem Nordteil Württemberg-Badens, mithin für eine etwas bemüht wirkende Polarisierung zwischen schwäbischem Ober- und Unterland. Andererseits und zugleich symbolisiert er eine ausgeprägte Orientierung an „Stuttgart“ sowie das Bestreben, zum Ausgleich der unterschiedlichen historisch-kulturellen Identitäten und landsmannschaftlichen Traditionen im Südweststaat das Seine beizutragen.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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