Architektonische Erinnerungsorte der Moderne in Südwestdeutschland

Zwischen Modernismus und Traditionalismus

Es ist spannend und unterhaltend zugleich, wenn man sich Architekturzeitschriften der späten 1940er- und frühen 1950er-Jahre anschaut, um ein Bild zu gewinnen, wie die Bauszene sich zur Wiederaufbauzeit in Deutschland darbot. Sie sind mit Artikeln angefüllt, die den Gegensatz zweier Richtungen betonen. Da waren auf der einen Seite die Vertreter der gemäßigten Moderne und der Tradition sowie auf der anderen Seite die Vertreter des „Neuen Bauens“, die sogenannten Modernisten. Architektonische Erinnerungsorte zeugen in Baden-Württemberg auch heute noch von diesem Gegensatz innerhalb der Moderne.

Im zeitlichen Abstand von über 60 Jahren und mit den erhaltenen architektonischen Manifestationen vor Augen will es scheinen, dass die Schärfe der Auseinandersetzung nicht so sehr von den Architekten selbst kam. Vielleicht waren es die Lager ihrer Anhänger, die die schroffe Grenze zwischen den baukünstlerischen Richtungen der Zwischenkriegszeit auch weiterhin hochhielten.

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Autor: Thomas Braun

Der Text von Thomas Braun erschien unter dem Titel „Zwischen Modernismus und Traditionalismus. Architektonische Erinnerungsorte der Moderne in Südwestdeutschland“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

LpB-Shop: Baden-württembergische Einnerungsorte

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Legenden und Mythen

Überzeugend und beeindruckend sind diese unterschiedlichen medialen Standpunktdarlegungen allemal – und sie sind schonungslose Schlagabtausche. Die Modernisten, also die Verfechter des in Deutschland sogenannten „Neuen Bauens“, der „Neuen Sachlichkeit“, des „International Style“, oft auch als „Bauhausarchitektur“ bezeichnet, hatten nach 1945 einen entscheidenden Trumpf in Händen: Das gemäßigte Lager und vor allem die Traditionalisten schienen sich in Gänze mit der Diktatur des „Dritten Reichs“ arrangiert zu haben, während sich die Modernisten als verfemt und damit in Gänze auf der richtigen Seite stehend darzustellen wussten.

Viele von ihnen hatten Deutschland während des „Dritten Reichs“ verlassen und nicht alle waren nach dem Kriegsende wiedergekehrt. Sie und ihre schreibende Lobby nahmen in Anspruch, die Architektur der Demokratie zu vertreten. Seit einiger Zeit schon wissen wir, dass beide Behauptungen nicht den historischen Tatsachen entsprechen. Wir wissen um die Versuche von prominenten Vertretern des „Neuen Bauens“, sich den „braunen“ Machthabern anzudienen. Wir wissen auch, wie sich der eigentlich unschöpferische Nationalsozialismus unterschiedlicher Elemente bediente und sie in sein System einbaute.

Für den interessierten Leser dieser Zeitschriftenartikel aus den späten 1940er- und 1950er-Jahren ergibt sich leicht der Eindruck, als habe dort eine lebendige und aktuelle Auseinandersetzung ihren medialen Ausdruck gefunden. Zu einem guten Teil ist dieser Eindruck auch gerechtfertigt, denn auf dem freien Baumarkt sicherten sich die Architekten der gemäßigten Moderne und der Tradition wieder große Anteile. Einige dieser Architekten setzten in der Tat Karrieren fort, die sie vor und im „Dritten Reich“ begonnen hatten. Zu einem anderen Teil handelte es sich dabei nur noch um das Echo einer lautstarken Auseinandersetzung aus der Zwischenkriegszeit, deren Ursache schon ziemlich in den Hintergrund getreten war.

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Reform des Lebens in der Kultur der Industrialisierung: der gemeinsame Ausgangspunkt

Es war die Auseinandersetzung zwischen künstlerisch nahe verwandten Schulen, die um das Jahr 1900 von benachbarten Ausgangspunkten ihre Entwicklungslinien nahmen. Der 1907 gegründete Deutsche Werkbund bildete das organisatorische Konzept für alle Kräfte der Kunst wie auch des Kommerzes, die dem Stilpluralismus und Eklektizismus des 19. Jahrhunderts ein Ende bereiten wollten. Ihnen ging es um Authentizität und Marktanteile, um gute Gestaltung und rationelle Fertigung, um „deutsche Kunst“ und Hebung des Massengeschmacks, um Exportchancen und Materialgerechtigkeit. Es gäbe bestimmt noch mehr solcher Begriffspaarungen, mit denen man die Inhomogenität des Werkbunds, was seine Ziele und Absichten anbelangt, charakterisieren könnte. Ein Hauptziel aber war und blieb die Reform des Lebens in der Kultur der Industrialisierung, aus der sich alle anderen Ziele ableiten sollten.

Theodor Fischer und die „Stuttgarter Schule“

Für die Entwicklung der Architektur im Süden Deutschlands war aber eine Persönlichkeit ganz besonders bedeutend: Theodor Fischer (1862–1938). Er war einer der maßgeblichen Mitbegründer des Deutschen Werkbunds. Seine eigenen architektonischen Manifestationen weisen eine große stilistische Bandbreite auf. Er trug den Pluralismus gleichsam in sich und gab ihn an seine zahlreichen Schüler weiter.

John Zukowsky arbeitete 1986 Fischers Bedeutung für die Entwicklung der architektonischen Moderne in Deutschland überzeugend heraus. Er stellt dar, wie Fischer eine ganze Reihe moderner Architekten ausbildete, darunter Martin Elsässer, Hugo Häring, Ernst May und wie er auch Studenten in seinem Büro beschäftigte, die ganz gegensätzliche Ansätze zur modernen Gestaltung mitbrachten, wie Bruno Taut und Paul Bonatz. Diese Fischer-Schüler setzten aber den inneren Pluralismus ihres Lehrers nicht fort. Sie bildeten gegensätzliche Lager und erzeugten so gleichsam die Vielfalt der Moderne. Und in dieser Vielfalt bildeten die eingangs benannten Gruppen die Hauptlager in dieser Auseinandersetzung. Innerhalb des gemäßigt modernen Lagers war aber auch Raum für ausgesprochen konservative Künstler, die als Grundlage ihrer Kunst diejenige der Zeit „um 1800“ betrachteten, wie zum Beispiel Paul Schmitthenner. Auch dieses künstlerische Ideal entstammte letztlich den Reformbestrebungen, die in den Deutschen Werkbund hineingetragen wurden.

Selbstverständlich entwickelten sich die Lager mit den Jahren auch weiter. Die expressionistischen Experimente hatten dabei ihre eng bemessene Zeit. Nur die Grundausrichtung blieb bestehen und natürlich auch der gesellschaftspolitische Gegensatz, der die Lager zusätzlich voneinander trennte. Im ganzen Reich und auf allen Gebieten der angewandten Kunst und bei allen Bauaufgaben trat ein scharfer Gegensatz zwischen den zwei sich herausbildenden Hauptgruppen hervor. Süddeutschland aber wurde in jenen Jahren zu einem Hauptaktionsfeld der gemäßigten Moderne und des Traditionalismus. Stuttgart und seine Technische Hochschule waren ein äußerst wichtiges Zentrum dieser Bewegung. Hier wurden Architekten des In- und Auslandes im Sinne dieser Ausrichtung der Moderne unterrichtet und geprägt. Paul Bonatz, Paul Schmitthenner und der Städtebauer Heinz Wetzel standen als Professoren der „Stuttgarter Schule“ vor.

Die Generation von Künstlern und Lehrern wie Theodor Fischer, die die Bewegung der Moderne um 1900 in Gang setzten, war ungefähr in den späten 1860er- und frühen 1870er-Jahren geboren worden. Ihre Schüler, unter denen die erwähnte Auseinandersetzung ausgetragen wurde, kamen ungefähr zwischen 1880 und 1890 zur Welt.

Eine Generation schert aus

Um sich vorstellen zu können, was diese Schülergeneration, diese zweite Werkbund-Generation umtrieb, ist die Lektüre von Stefan Zweigs (1881–1942) Lebenserinnerungen „ Die Welt von Gestern“ aufschlussreich. Er stellt dar, wie die damals jungen Leute in den gut anderthalb Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg versuchten, den fast ausschließlich auf Solidität, Verlässlichkeit und Kontinuität ausgerichteten Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts abzuschütteln. Sie suchten das Spektakuläre, bewusst Jugendliche, das nie Dagewesene – die einen mehr, die anderen weniger intensiv, versteht sich. Nach den umstürzenden Ereignissen nach dem Ersten Weltkrieg erhielt diese Generation die Chance, ihre schon entwickelten Vorstellungen vom neuen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben zu realisieren.

Diese Kombattanten der zweiten Werkbund-Generation beendeten ihre berufliche Karriere in den 1950er-Jahren. Für die nachfolgende, nun dritte Architektengeneration, war die Diskussion ihrer Väter und Großväter abgeschlossen, wie Werksiedlung Gmindersdorf, Reutlingen, mit angrenzenden Fabrikanlagen, ca. 1918: Der erkennbare Siedlungsbezug zur offenen Feldflur sowie zur Fabrik ist heute verloren. deren Bauten deutlich zeigen. Über das Ausland waren Vorstellungen von einer architektonischen Moderne in die Bundesrepublik der Wiederaufbauzeit zurückgekommen, die sich dort während der Zeit der NS-Diktatur in Deutschland hatten frei entfalten können, zu einem guten Teil aber im Deutschland der Zwischenkriegszeit entwickelt worden waren. Der Traditionalismus war am Ende seiner Entwicklungslinie angekommen, der exzentrische Avantgardismus der Vorkriegsmodernisten kam nicht mehr zum Zuge. Die Architektur der jungen Bundesrepublik bekam Anschluss an die in Europa sowie die in den Vereinigten Staaten. Sie geriet zugleich unter die ökonomischen Einflüsse und Zwänge der biederen „Wirtschaftswunderrepublik“.

Lange Zeit gingen die Architekturhistoriker und die interessierten Laien auf der Suche nach beispielhaft moderner Architektur zu einseitig vor. Nur die spektakulären Bauten und Projekte der Modernisten bewerteten sie als „echt“ modern und zeittypisch. Das Bauhaus, das von vielen immer noch als das Nonplusultra der Moderne zwischen den Weltkriegen angesehen wird, spielt bei dieser Bewertung eine wichtige Rolle. Dabei hatte gerade das Bauhaus auf die brennenden architektonischen Fragen seiner Zeit nicht viele Antworten geliefert.

Nein, die Moderne der deutschen Architektur ist mehr, viel mehr. Sie umfasst auch die Werke der Gemäßigten und Traditionalisten. Zahlenmäßig sind die Erzeugnisse der Modernisten im Untersuchungszeitraum denen der anderen ohnehin bei weitem unterlegen. Und das nicht nur in den ehemaligen Ländern Baden und Württemberg. Im Folgenden sollen nur einige wenige Bauten und Projekte der Moderne zwischen 1900 und 1952 vorgestellt werden, die als Erinnerungsorte im Südwesten besondere Bedeutung haben.

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Gmindersdorf, Reutlingen-Betzingen: Heimstätten, nicht nur Wohnungen

Theodor Fischer erhielt im Jahr 1903 von dem Reutlinger Fabrikanten Louis Gminder den Auftrag, Wohnstätten für Arbeiterfamilien auf einem zehn Hektar großen, der Fabrik benachbarten Gelände zu planen. In mehreren Schritten entstanden 48 Bauwerke, teils Doppel-, teils Einzelhäuser und eine Reihe von Sonderbauten. Das Schema des Bebauungsplanes bildet ein rechtwinkliges System von Durchgangs- und Erschließungsstraßen. Die Bebauung ist an die Blockrandstreifen gerückt. So bleibt Raum für Nutzgärten und Grünflächen. Am hochgelegenen Ende der zentralen, die Symmetrieachse der Anlage bildenden Haupterschließungsstraße liegt der Altenhof, Reihenhäuschen im Halbrund angelegt mit einem zentralen Hauptgebäude. So entsteht ein „point de vue“, der, wie die gesamte Anlage, den barocken Planungsgedanken Fischers verrät.

Die Architektur der Wohnhäuser vermeidet jeden Schematismus. Sie sind anderthalb- bis zweigeschossig und tragen in der Regel Krüppelwalmdächer mit Gauben und Zwerchgiebeln. Die Außenwände sind teils verputzt, teils als Sichtfachwerk oder unter einer Holzverschalung gehalten. Farbig gestrichene Fensterläden und feine Fenstersprossen unterstützen die Reliefbildung der Fassaden. Die Ladenzeile im Zentrum der Siedlung ist ein unterschiedlich hoher, teils trauf-, teils giebelständiger Bau. Die Baukörper zeichnen sich alle durch ihre kompakten Umrisslinien aus. Hanglage und Stellung der Gebäude zueinander erzeugen ständig wechselnde Sichtverbindungen.

Fischer hat hier versucht, echte Heimstätten und nicht nur Wohnungen für die Arbeiter von Gminder zu schaffen. Er griff auf die Architektursprache der Zeit „um 1800“ zurück. Dieser Rückgriff auf die Baukunst vor dem Beginn der Industrialisierung und auf das Stilgemisch des Historismus kann aus heutiger Sicht natürlich auch als historistisch angesehen werden. Zu seiner Zeit aber lag darin eine reformerische Idee, die er maßgeblich entwickelte und in die Reformbewegung des Heimatschutzes einbrachte, die dann bei der Gründung des Werkbunds dort weiterwirkte. Er wollte eine der Aufgabe angemessene Form finden. Der ästhetische Aspekt war aber nur ein Teil der Reformgedanken Fischers.

Es lag in seiner Planungsabsicht kein geringeres Ziel, als dem Arbeiter die beste aller damals denkbaren Wohn- und Lebensmöglichkeiten zu geben, um ihm einen akzeptablen Platz in der modernen bürgerlichen Gesellschaft zuzuweisen, eine Identifikationsmöglichkeit mit dieser Gesellschaft zu ermöglichen und damit folglich seine ökonomisch wichtige Arbeitskraft für diese Gesellschaft stets auf dem Optimum zu halten. Das ist der Impetus der Moderne, der sich in dieser kleinen Siedlung zeigt. Diese rationale Überlegung schließt mit ein, dass diese an der Ästhetik des Beschaulichen orientierte Architektur wesentlichen Einfluss auf das Gefühlsleben der Bewohner ausüben sollte. Wenn sich darin eher ständestaatliche und patriarchalische als demokratische gesellschaftspolitische Vorstellungen manifestieren, die eine Verbürgerlichung des Arbeiters beinhalteten, so muss die Modernität der humanen wie der künstlerischen Tat doch berücksichtigt werden.

Hauptbahnhof Stuttgart: typologisch etwas Neues und Eigenes

Ein weiterer wichtiger Erinnerungsort der modernen Architektur in Südwestdeutschland ist das Empfangsgebäude des Stuttgarter Hauptbahnhofs von Paul Bonatz (1877–1956) und seinem Associé Friedrich Scholer (1874–1949). Er entstand in zwei Bauabschnitten in den Jahren 1914 bis 1928, nachdem ihr Entwurf vom Preisgericht 1912 ausgewählt worden war. Bonatz war von 1902 bis 1906 zunächst Mitarbeiter in Theodor Fischers Büro, dann von 1906 bis zu Fischers Weggang von Stuttgart 1908 dessen Assistent an der Technischen Hochschule. Im selben Jahr wurde er auf Fischers Lehrstuhl berufen, den er bis 1943 innehatte.

Das Empfangsgebäude des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist ein Komplex, der aus sechs Hauptbaukörpern zusammengesetzt ist: dem langen Nordflügel zur Heilbronner Straße hin, der Nahverkehrsschalterhalle, der Arkadenfront, der Fernverkehrsschalterhalle, dem Turm und dem Südflügel mit den drei vorspringenden Baukörpern. Viele Teile des Tragwerks bestehen aus Stahl und Beton, ansonsten wurden Backstein und Muschelkalk verarbeitet. Neben der unbestrittenen städtebaulichen Qualität ist es die baukünstlerische, die den Stuttgarter Bahnhof zu einem Wahrzeichen Stuttgarts und ganz Württembergs gemacht hat. Das Architektenpaar hat die damals moderne Bauaufgabe „Bahnhof “ formal neu gelöst. Es ist ihnen gelungen, die wesentlichen Funktionen eines Empfangsgebäudes nach außen erkennbar werden zu lassen und diese dabei einem gestalterischen Gedanken unterzuordnen.

Der Entwurf verzichtet auf eine ausgeprägte Gliederung der Baukörper durch große Höhen- und Volumenunterschiede. Der Gesamtbau ist aus einigen wenigen kubischen Baukörpern zusammengesetzt, die durch ihre ausgewogenen Proportionen zusammengehalten werden. Auf zierende Details oder historische Architekturzitate ist der Bau nicht angewiesen.

Monumentale Ausstrahlung

Typologisch ist der Stuttgarter Hauptbahnhof etwas durchaus Neues und Eigenes. Eine Fassade im Sinne der historistischen Architektur hat er gar nicht; alle Gliederungen an der westlichen Hauptseite, wie zum Beispiel die Arkaden, haben eine eigentliche Funktion oder andere, wie die großen Bögen, weisen auf die hinter ihnen liegenden Schalterhallen als Funktionsträger hin. Bis heute erfüllt er alle die an ihn gestellten Aufgaben, die sich seit seiner Fertigstellung mehrfach verändert haben dürften.

Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass der Bonatz-Scholer-Entwurf eine Monumentalität ausstrahlt, die ihn wiederum eher in die Ebene des wilhelminischen Repräsentationsbedürfnisses zurückfallen zu lassen scheint. Doch eines ist dabei zu beachten: Seine Monumentalität wird nicht mit den geläufigen Mitteln des 19. Jahrhunderts erzeugt, sondern gerade durch die Schlichtheit und die Volumina der Baukörper, durch die archaisch anmutenden, großflächigen Muschelkalkquadermauern mit dem ebenso großflächigen Backsteinkontrast in den großen Bögen der Eingänge.

An der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart schieden sich die Geister

Am spektakulärsten von allem, was im Deutschland der 1920er-Jahre an architektonischen Versuchen unternommen wurde, war die Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ am Weißenhof in Stuttgart im Jahr 1927. Der Werkbund und die Stadt Stuttgart wollten auf diesem städtebaulich interessanten Hanggelände über dem Stuttgarter Talkessel zeitgemäßen Wohnungsbau vom Einfamilienhaus bis zum Mehrfamilienhaus demonstrieren. Es war eines der großen sozialen Anliegen der damaligen Zeit, für eine sich modernisierende Gesellschaft neuartige Wohnkonzepte zu erarbeiten. Die deutsche Reichsregierung hatte finanzielle Förderprogramme für den Massenwohnungsbau aufgelegt, die auch hier genutzt wurden. So weit, so gut. Eine der Hauptursachen dafür, dass sich am „Weißenhof “ viele Gemüter so erhitzten, war, dass die verschiedenen Architektur- und Weltanschauungen innerhalb des Werkbundes hier hart aufeinander trafen.

Nie zuvor und auch nicht mehr danach wurde der Gegensatz innerhalb der Bewegung der Moderne so deutlich empfunden. In der festen Überzeugung, die „Stuttgarter Schule“ werde bei diesem Projekt federführend eingesetzt oder aber zumindest maßgeblich beteiligt, veranlasste Paul Bonatz die Vorarbeiten zu einem Bebauungsplan am Weißenhof. Kurz danach erfuhr er, dass die Werkbund-Leitung Ludwig Mies van der Rohe mit diesen Arbeiten betraut hatte. Van der Rohe beteiligte an seinem Projekt weder bei den städteplanerischen Arbeiten noch bei den einzelnen architektonischen Aufgaben einen der Exponenten der „Stuttgarter“.

Er lud von der älteren Architektengeneration die Gründungsmitglieder des Werkbunds Hans Poelzig und Peter Behrens dazu ein; von den jüngeren wurden die Brüder Bruno und Max Taut, beide Mitglieder der Architektenvereinigung „Der Ring“, sowie Walter Gropius, Hans Scharoun, Ludwig Hilberseimer, Adolf Rading, Adolf Gustav Schneck und Richard Döcker dazugebeten. Außerdem erhielten noch ausländische Gäste die Gelegenheit zur Teilnahme: der Frankoschweizer Le Corbusier und sein Vetter Pierre Jeanneret, der Belgier Victor Bourgeois, der Österreicher Josef Frank und die Niederländer Mart Stam und Jacobus Johannes Pieter Oud.

Konflikte und Heterogenität

Die Teilnahme von Ausländern, die nicht Werkbund-Mitglieder waren, empfanden die Architekten um Bonatz als Zurücksetzung. Bonatz und Schmitthenners massivste Kritik am Bebauungsplan Mies van der Rohes besiegelte den unüberbrückbaren Gegensatz.

Der Bebauungs- und Gebäudeplan sah 21 Häuser mit insgesamt 63 Wohnungen vor. Das Spektrum reichte vom großbürgerlichen Einzelhaus, über Doppel- und Reihenhäuser bis zur Etagenwohnung im Wohnblock. Was dabei entstand, waren Architekturen von hohem ästhetischen Wert und großer Eleganz. Obwohl die spektakuläre „Schiffsbau-Ästhetik“ fast durchgängig dominierte, blieben die Handschriften der einzelnen Architekten lesbar.

Die Veranstalter und Planfertiger beabsichtigten, den Titel der Ausstellung „Die Wohnung“ in seiner umfassenden Bedeutung zu interpretieren. Diese Absicht und die Beteiligung so vieler, im Grunde sehr individualistischer Architekten, waren vielleicht dafür verantwortlich, dass das gut gelegene Gelände sehr heterogen bebaut wurde. Auch die Tatsache, dass die Aufgabenstellung „Massenwohnungsbau“ nicht das Hauptanliegen der Ausstellung war, wurde kritisch aufgefasst, sowohl natürlich von den Gegnern des Projekts als aber auch von der Werkbund-Leitung und der für die Zuschussbewilligung zuständigen Reichsstellen.

So ist der Erfolg der Ausstellung nicht ungeteilt gewesen. Technische Unzulänglichkeiten, die sich daraus ergaben, dass das Bauhandwerk technisch mit den Vorstellungen der Entwerfer nicht immer Schritt halten konnte, verbesserten die Bilanz nicht. Schwer zu handhabende Grundrisse mancher Bauten haben das ganze Projekt nach seiner Inbetriebnahme belastet. So hatten sich die Abrisspläne nationalsozialistischer Observanz nicht nur auf weltanschaulich-ideologische Argumente stützen müssen.

Die Kochenhof-Siedlung: die Antwort der „Stuttgarter“

Enttäuscht, erzürnt und voller Überzeugung, es besser zu können, formierten sich die Anhänger der „Stuttgarter Schule“ und suchten nach einer Möglichkeit, ein Gegenprojekt zu verwirklichen. Erst 1933 erhielten sie dazu im nahe gelegenen Kochenhof die Gelegenheit, nachdem es ihnen nun gelungen war, dieses Projekt ihren modernistischen Gegnern abzujagen. Unter Paul Schmitthenners Regie entstand hier unter dem Ausstellungsmotto „Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung, Stuttgart 1933“ eine Mustersiedlung von 25 Ein- und Zweifamilienhäusern.

Aus heutiger Perspektive ist nur schwer verständlich, wie verstörend die Architektur eines Le Corbusier oder Mart Stam auf das damalige Publikum gewirkt haben. Selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man, die „Schroffheit“ der Kuben durch konventionelle Dächer zu mildern; Teilabrisse fanden statt und die Bausubstanz verkam. Erst ab den späten 1970er-Jahren wuchs das Verständnis für die Weißenhof-Siedlung als Zeugnis für die avantgardistische Architektur, die von hier auf die Welt ausstrahlte.

Die Vision von Gleichheit und Zweckdienlichkeit: Siedlung Dammerstock, Karlsruhe

Nach dem Weißenhof unternahm der Werkbund noch einen Versuch im Südwesten, dem Ziel, den effektiven Wohnbau der Zukunft aufzuzeigen, nahezukommen. Eine Mustersiedlung auf dem Dammerstock in Karlsruhe sollte entstehen. Dazu wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Ernst May, der im Siedlungsbau erfahrene Stadtbaurat von Frankfurt am Main, Ludwig Mies van der Rohe und Paul Schmitthenner saßen gemeinsam im Preisgericht. Sie prämierten den Entwurf von Walter Gropius. Erste Erfahrungen mit dem Siedlungsbau hatte er mit seiner wenig erfolgreichen Siedlung Törten bei Dessau während seiner Bauhauszeit machen können. Eine Forderung an die Wettbewerbsteilnehmer war gewesen, minimalistische Wohnungen im System des strengen Zeilenbaus zu entwerfen.

So wurde der Dammerstock quasi zu einem Gegenmodell zum „eleganten“ Weißenhof. Gropius’ Entwurf beinhaltete eine wenig flexible Vision von Gleichheit und Zweckdienlichkeit, so schreibt John Zukowsky. Die Zeilen am Rand des Bebauungsplans sahen drei bis sechs Stockwerke mit je bis zu acht Wohneinheiten vor. Diese waren auch für damalige Verhältnisse klein bemessen. Auch in Törten war Gropius so vorgegangen: Die rationelle Herstellung unter Verwendung industrieller Baumethoden hatte Priorität. Der Wohnstandard geriet dadurch äußerst niedrig.

Wie Weißenhof blieb Dammerstock nach der Fertigstellung nicht ohne Kritik. Der Formalismus und die kompromisslose Strenge der Zeilen waren die Kritikpunkte. Nachdem die Gärten angelegt und Bäume gewachsen waren, wurden diese Schwächen zumindest optisch gemildert. Heute ist die Siedlung Dammerstock, zusammen mit ihrer konservativeren Erweiterung aus den 1930er-Jahren, ein beliebtes Karlsruher Wohngebiet.

Kaufmannserholungsheim, Urach

Der eigentliche Baubeginn für das Kaufmannserholungsheim an der Hanner Steige oberhalb von Urach (heute Bad Urach) fand 1916 statt. Die Grundsteinlegung erfolgte in Anwesenheit des württembergischen Königs Wilhelm II. Die Kriegsereignisse und die Inflation zu Beginn der 1920er-Jahre verhinderten den eigentlichen Baubeginn. 1929 begann die Deutsche Gesellschaft für Kaufmannserholungsheime (DGK) mit Sitz in Wiesbaden mit dem Bau nach neuen Plänen, die der Stuttgarter Architekt Adolf Schneck (1883–1971) ausgearbeitet hatte. Er war schon mit zwei Wohnhäusern an der Weißenhof-Siedlung beteiligt gewesen. Mit seinem „Haus auf der Alb“ schuf er in schönster Lage gegen das Uracher Tal seinen Zweckbau.

Im Wesentlichen besteht der Komplex aus vier Hauptgliedern. Die zwei kubenförmigen Seitenflügel, in denen sich die Fremdenzimmer befanden, schließen links und rechts an den hochkant stehenden Kubus des zentralen Erschließungsbaus mit dem Haupteingang an. In dessen Verlängerung ist der eingeschossige Saalbau angefügt. An den Außenwänden der Talseite hängen Balkone mit abgerundeten Enden und zeittypischen Rohrbrüstungen, die einzigen nicht rechtwinkligen Details des Bauwerks. Das Schema der Lochfassade ist durchgängig angewandt. Die Fenster der Wohntrakte sind hochrechteckig eingeschnitten und von eher kleinem Format, liegende Formate kommen am Erschließungstrakt vor. Das umlaufende Traufgesims schließt die Kuben der Flügel nach oben ab und gibt ihnen ein Mindestmaß an Gliederung.

Technische Notwendigkeiten wie beispielsweise die Fallrohre der Dachflächenentwässerung tragen zur Reliefbildung der Fassaden bei. Das gesamte Gebäude ist weiß verputzt. Schneck bediente sich der reinen Sprache der Neuen Sachlichkeit. Die Kargheit der Außenseiten bestimmt auch das Innere. Es ist von außerordentlicher, nüchterner Schlichtheit. Die Verkehrsflächen, die Zimmer und die Gesellschaftsräume sind frei von schmückenden Details. Selbst die von Schneck entworfene Einrichtung des Hauses ist frei von gestalterischen Elementen, die den Bewohner oder Benutzer emotional ansprechen würden. Wie bei Gropius’ strengen Wohnzeilen im Dammerstock tritt hier der gestalterische Wille zur reinen Rationalität krass zutage, der die Bauten der modernistischen Avantgarde auszeichnet. Der Bau steht auf einer Terrasse am Albtrauf und sucht nicht seine Eingliederung in die Landschaft, sondern hebt sich bewusst blockhaft von ihr ab.

Tagungszentrum Haus auf der Alb

Das Haus auf der Alb in Bad Urach ist das Tagungszentrum der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Es gehört zu den 100 vom Bauhaus geprägten Orten der Moderne. 1930 als Kaufmannserholungsheim fertiggestellt, ist es eines der bedeutendsten Zeugnisse des „Neuen Bauens“ im Südwesten. Darüber hinaus ist Baden-Württemberg auch Schauplatz für das Wirken vieler berühmter Bauhaus-Pioniere. Begeben Sie sich mit auf eine Rundreise.

Geschichte des „Haus auf der Alb"

Königin-Olga-Bau, Stuttgart

Paul Schmitthenner (1884–1972) verlor mit dem Untergang des „Dritten Reichs“ seinen Stuttgarter Lehrstuhl. Seine nie ganz sicher auszulotende Nähe zum Nationalsozialismus und seine nie verhohlene, offene Gegnerschaft zur Ideologie des „Neuen Bauens“ hatten ihn nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ zunächst isoliert. Als privater Architekt blieb er aber durchaus gefragt. Als er den Auftrag bekam, für die damalige Rhein-Main-Bank anstelle des im Krieg zerstörten historistischen Königin-Olga-Baus ein neues Bankgebäude zu errichten, lag Stuttgarts Innenstadt noch in Trümmern. Die Wiederaufbauplanung der Stadt war bei Weitem noch nicht abgeschlossen. So kam Schmitthenners Auftrag also eine besondere Bedeutung zu.

Der Bauplatz lag an einem der städtebaulich wichtigsten Bereiche der Stadt; das Bauwerk sollte den Abschluss der Königstraße und einen Teil der Platzwand des Schlossplatzes abgeben. Ein baureifer Entwurf an dieser Stelle determinierte also zwangsläufig alle Überlegungen zum Neuaufbau an dieser Stelle der Stadt. Für den Wiederaufbau des Neuen Schlosses, des Kunstgebäudes und des Königsbaus in ihren historischen Formen, der 1950 noch überhaupt nicht feststand, wirkte sich der neue Olga-Bau bestimmend aus.

Schmitthenner orientierte sich bei der Auswahl der Baumaterialien an den historischen Nachbargebäuden. Er wählte für die Fassaden des hohen Erdgeschosses Muschelkalk und für die der Obergeschosse Sandstein. Fenster- und Türgewände sind durchweg aus Muschelkalk gearbeitet. Lamellenklappläden sorgen für ein Fassadenrelief am Obergeschoss. Solche Fensterläden sind bei einem repräsentativen öffentlichen Gebäude auch damals eher unüblich gewesen. Sie wurden und werden fast ausschließlich im Wohnungsbau verwandt. Vielleicht hat Schmitthenner versucht, damit die Strenge des Entwurfs etwas zu mildern und ihm eine heitere und privatere Note zu verleihen. Das ist ihm wohl auch gelungen.

Vergleicht man den Olga-Bau mit Hermann Billings Karlsruher Oberpostdirektionsgebäude aus dem Jahr 1938, so fällt zum einen die enge Verwandtschaft der Entwürfe auf, zum anderen aber, um wie viel hoheitlicher Billings Bau im Vergleich zu dem Schmitthenners wirkt. Damit ist aber auch klar zu erkennen, wie unzeitgemäß der Stuttgarter Entwurf war. Geradezu aufreizend wirkte er auf die Anhänger der Modernisten. Der Olga-Bau dürfte einer der letzten Repräsentationsbauten nach 1945 in Württemberg und Baden sein, der die Züge des Traditionalismus aus der Zwischenkriegszeit so rein und offen zeigte. Er steht heute mit den Bauten des Weißenhofs und allen anderen hier besprochenen unter Denkmalschutz. Das ist sicher gut so.

Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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