Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Als Ergebnis des von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkriegs verloren rund 12,5 Millionen Deutsche aus den Ostgebieten des Reiches und einer Reihe ostmitteleuropäischer Staaten ihre Heimat. Als Fremde zunächst von der eingesessen Bevölkerung abgelehnt, trugen sie schließlich in einem jahrzehntelangen Eingliederungs- und schließlich Assimilierungsprozess entscheidend zum Wiederaufbau der beiden deutschen Staaten bei.

Die erste bundesweite und öffentliche politische Willensbekundung der Vertriebenen erfolgte mit der am 5. August 1950 im Großen Kursaal in Bad Cannstatt verabschiedeten Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Von ihnen als ihr Grundgesetz bezeichnet, ist die Charta zu einem Erinnerungsort mit bundesweiter Ausstrahlung, nicht nur im Verständnis der Vertriebenen, geworden. Dennoch wird die Anerkennung des 5. August als nationaler Gedenktag für die Opfer von Vertreibung nach wie vor kontrovers diskutiert.

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Autor: Mathias Beer

Der Text von Mathias Beer erschien unter dem Titel „Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Charta der deutschen Heimatvertriebenen

Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker, haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine

feierliche Erklärung

abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.

  1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
  2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
  3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.

Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.

Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das

Recht auf die Heimat

als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.

So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken.

Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern:

  1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.
  2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchführung dieses Grundsatzes.
  3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.
  4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.

Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.

Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht.

Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.

Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.

Stuttgart, den 5. August 1950

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Das öffentliche Erinnern an die Charta

Am 5. August 2010 wurde in Stuttgart mit drei Veranstaltungen des 60. Jahrestags der Verkündung der Charta der deutschen Heimatvertriebenen gedacht. Sie standen in ihrem Ablauf, bezogen auf die Teilnehmer und die inhaltlichen Aussagen in der Tradition der Gedenkveranstaltungen, die seit 1950 stattgefunden haben. Zunächst legten der Innenminister des Landes Baden-Württemberg, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV) und die Spitze des Landesverbandes des BdV Kränze am „Denkmal für die Opfer der Vertreibung“ nieder. Die Bronzeskulptur wurde 1986 im Kurpark von Stuttgart-Bad Cannstatt errichtet. In ihrer Bodenplatte ist der Text der Charta eingelassen. Das Denkmal steht in unmittelbarer Nähe des Großen Kursaals, dem Ort, an dem die Charta am 5. August 1950 verabschiedet wurde. Dort erinnert an der Außenmauer eine Tafel an das historische Ereignis.

In den frühen Nachmittagsstunden luden die Union der Vertriebenen und Flüchtlinge in der CDU Baden-Württemberg und der Kreisverband Stuttgart des BdV zu einer Feierstunde im Innenhof des Neuen Schlosses ein. Dort erinnert seit 2002 eine in den Boden eingelassene Gedenktafel an die Großveranstaltung, die auf diesem Platz am 6. August 1950 aus Anlass der öffentlichen Proklamation der Charta stattgefunden hatte. Daran nahmen Bundes- und Landtagsabgeordnete sowie Stuttgarter Stadträte teil. In Anwesenheit des Fraktionsvorsitzenden der CDU im baden-württembergischen Landtag hielt die Vizepräsidentin des Landtags die Festrede.

Der offizielle Festakt zum runden Geburtstag der Charta fand auf Einladung des BdV am 5. August 2010 unter hochrangiger politischer Präsenz im Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart statt. Der Bundestag und die Bundesregierung waren durch den Präsidenten des Bundestags Norbert Lammert, durch Innenminister Thomas de Maizière und durch Außenminister Guido Westerwelle vertreten, die Landesregierung durch Innenminister Heribert Rech und die Stadt Stuttgart durch ihren Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Neben der Spitze des BdV sowie weiteren Vertretern von Kirchen und anderen Organisationen waren auch Botschafter und Botschaftsangehörige einiger ostmitteleuropäischer Staaten anwesend.

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„Dokument der Versöhnung“ oder „selbstgefälliges Opferdokument“?

Von den Rednern bei den drei Veranstaltungen am 5. August 2010 wurde die Charta immer mit Verweis auf den Umfang von Flucht und Vertreibung, das damit verbundene Leid und die große Herausforderung, die die Aufnahme der Millionen Vertriebenen im kriegszerstörten Nachkriegsdeutschland darstellte, als wichtiges „Gründungsdokument“ der Bundesrepublik bezeichnet. Sie sei eine wesentliche Voraussetzung für die Erfolgsgeschichte der Integration gewesen. Die Charta habe den innenpolitisch radikalen Versuchungen den Boden entzogen, gesellschaftspolitisch den beispiellosen Wiederaufbau ermöglicht und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung und Versöhnung unter Einbeziehung der ostmitteleuropäischen Nachbarn vorbereitet. Alle Redner würdigten die Charta als Dokument des demokratischen Neubeginns und der europäischen Integration – „ein bleibendes Vermächtnis für die Zukunft des wiedervereinigten Deutschland in einem zusammenwachsenden Europa“. Vor diesem Hintergrund unterstrichen sie die Notwendigkeit, die Erinnerung an die Charta wach zu halten. Nicht einig war man sich darin, wie das bewerkstelligt werden sollte. Insbesondere der BdV verwies auf die Entschließung des Bundesrates vom 3. Juli 2003. Darin wird die Bundesregierung aufgefordert, den 5. August zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu erklären.

Solchen Einschätzungen und Forderungen stehen in Sprache und Inhalt diametral entgegengesetzte Bewertungen gegenüber. Vertreter von Bündnis 90/Die Grünen kritisierten die Charta als eine historisch einseitige Erklärung, weil sie den Nationalsozialismus und damit die Vorgeschichte der Vertreibung ausklammere. Sie stuften die Feierlichkeiten aus Anlass des Jahrestages der Charta als ein „kontextloses Opfergedenken“ ein. Noch weiter gingen Bundestagsabgeordnete der Linken. Sie sprachen von der Charta als einem „Dokument des Revanchismus“, das die deutschen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verharmlose und verschweige. In die gleiche Richtung weisen die Äußerungen des Publizisten Ralph Giordano. Er bezeichnete den vielgerühmten Gewaltverzicht der Charta als „eine bloße Leerformel“ und nannte das Dokument ein „Paradebeispiel deutscher Verdrängungskünste.“ Der Erziehungswissenschaftler und Publizist Micha Brumlik schließlich meinte, bei der Charta handele es sich um Äußerungen, die „an Realitätsblindheit, Wahrnehmungsschwäche, Egozentrismus und mangelnder Empathie für das Leiden anderer schwerlich zu überbieten“ seien. Als Erinnerungsort halten die Kritiker die Charta für ungeeignet und lehnen die Forderung entschieden ab, den 5. August als bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung in all ihren Facetten einzuführen.

„Wegweisendes Dokument der Versöhnung und des Friedens“ oder „selbstgefälliges Opferdokument“? Wohl selten ist ein historisches Dokument so unterschiedlich bewertet worden. Das liegt auch daran, dass zwar viel über die Charta gesprochen, sie aber wenig gelesen wird und schon gar nicht erforscht ist. Daher ist das Reden über die Charta eher von unterschiedlichen Erinnerungsschichten und politischen Standpunkten als vom Wissen um die Fakten geprägt. Die Charta angemessen einzuordnen und zu deuten setzt voraus, sich die zeitgenössischen Verhältnisse zu vergegenwärtigen. Erst sie erlauben es, die Entstehung der Charta historisch einzuordnen und damit ihre erinnerungspolitische Bedeutung zu ermessen.

Vom Koalitionsverbot zur Entstehung der Vertriebenenverbände

Die Aufnahme von rund 12,5 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen stellte die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften vor große Herausforderungen. Dass die zwar regional unterschiedliche, im Durchschnitt aber insgesamt hohe Belastung der Länder, Städte und Kommunen mit Neubürgern – 1961 war jeder fünfte Baden-Württemberger ein Flüchtling oder Vertriebener – nicht zu den befürchteten „palästinischen Verhältnissen“ führte, war auch der Assimilationspolitik der Besatzungsmächte zu verdanken.

Um zu verhindern, dass sich die Flüchtlinge und Ausgewiesenen zu einer „unruhigen“ Minderheit entwickelten, strebten die Besatzungsmächte in allen Zonen eine schnelle und vollständige Verschmelzung der Neubürger mit der ansässigen Bevölkerung an. Diesem Ziel diente auch das sogenannte Koalitionsverbot. Den in Rechten und Pflichten den Altbürgern gleichgestellten Flüchtlingen und Vertriebenen war es verboten, eigene Parteien oder Organisationen mit politischer Zielsetzung zu gründen. Zwar wurde das Koalitionsverbot in den westlichen Besatzungszonen im Zuge des sich anbahnenden Kalten Krieges aufgeweicht. Dennoch bestand es im Grundsatz bis einschließlich der ersten Bundestagswahl fort. Deshalb war im ersten Bundestag keine Flüchtlings- oder Vertriebenenpartei vertreten.

Am 9. April 1949 konstituierte sich der „Zentralverband der vertriebenen Deutschen“ (ZvD), ein erster überregionaler Zusammenschluss der Vertriebenenorganisationen auf dem Gebiet der westlichen Besatzungszonen. Er war vornehmlich sozialpolitischen und wirtschaftlichen Zielen verpflichtet. Parallel dazu und begleitet von heftigen Auseinandersetzungen mit dem ZvD entstand eine Reihe von Landsmannschaften. Bei ihnen war die Herkunftsregion der bestimmende Organisationsfaktor. Anders als der ZvD verfolgten sie in erster Linie „heimatpolitische“ Ziele. Im August 1949 schlossen sich einige Landsmannschaften zu den „Vereinigten Ostdeutschen Landsmannschaften“ (VOL) zusammen. In beiden Verbänden, ZvD und VOL, sowie deren Nachfolgeorganisationen gab es in den Führungsgremien eine für die frühe Bundesrepublik in allen Bereichen der Gesellschaft feststellbare Kontinuität der an unterschiedlichen Stellen im nationalsozialistischen Herrschaftssystem auch aktiv mitwirkenden Eliten. Das gilt auch für eine Reihe der Unterzeichner der Charta.

Auf dem Weg zur Charta

Mit dem Göttinger Abkommen vom 20. November 1949 konnte die Konkurrenz und erbitterte Rivalität zwischen den beiden großen Vertriebenenorganisationen nicht überwunden werden. Aber man einigte sich erstmalig zumindest auf „Grundsätze für die gemeinsame Arbeit“. Danach war der ZvD für die Bereiche Wirtschafts- und Sozialpolitik der Flüchtlinge und Vertriebenen zuständig, die VOL für die Heimat- und Kulturpolitik. Darüber hinaus kam man im Sinne einer einheitlichen Willensbildung überein, die „gemeinsamen Forderungen und Ziele in einer Magna Charta der Heimatvertriebenen“ festzulegen.

Die Arbeiten daran kamen nur schleppend voran. Paritätisch besetzte Ausschüsse bereiteten Textvorschläge vor, auf die der Sprecher der Deutsch-Baltischen Landsmannschaft, Axel de Vries, beträchtlichen Einfluss hatte. Die von den Vorsitzenden des ZvD und der VOL gebilligte endgültige Fassung lag erst Ende Juli 1950 vor. Zu diesem Zeitpunkt stand auch der neue und endgültige Titel des Dokuments fest: Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Damit unterstrichen die Initiatoren die Einzigartigkeit ihrer Erklärung und stellten sie zugleich bewusst in die Tradition bedeutender politischer Erklärungen.

Warum Stuttgart?

Der Ort, an dem die Charta feierlich verabschiedet werden sollte, war angesichts des vehement vertretenen jeweiligen Führungsanspruchs der beiden Vertriebenenorganisationen lange unklar. Letztendlich gaben die vom gut organisierten und einflussreichen ZvD-Landesverband Württemberg- Baden eingeleiteten Vorbereitungen für ein eigenes „1. Landestreffen der Vertriebenen Deutschen in Stuttgart am 6. August 1950“ den Ausschlag. In den beiden folgenden Monaten wandelte sich dann das Landestreffen eines Interessenverbandes in eine „große und in ihrer Art einmalige Kundgebung der Vertriebenen“ in Stuttgart am 5. und 6. August unter der Regie des ZvD.

Mit der Schwaben-Hauptstadt wollte man offensichtlich an Stuttgarts Erbe als „Stadt der Auslandsdeutschen“ anknüpfen. Mit diesem Beinamen hatte Stuttgart seit 1933 für sich geworben, war doch schon 1917 das Deutsche Auslandsinstitut als „Museum und Institut zur Kunde des Auslandsdeutschtums“ in der Stadt gegründet worden. Als Würdigung ihrer Verdienste verlieh dann Adolf Hitler Stuttgart 1936 offiziell diesen Ehrentitel. Der Bezug auf diese Tradition löste 1950 bei der Stadt Irritationen aus, hielt sie aber nicht davon ab, die Veranstaltung zu genehmigen und zu bezuschussen. Unklar war zu diesem Zeitpunkt nur noch, ob die Veranstaltung im Staatstheater oder im Bad Cannstatter Kursaal stattfinden würde.

Im Vergleich zum Ort stand der Zeitpunkt der Veranstaltung schon relativ früh fest: der fünfte Jahrestag der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens im August 1945. In dessen Artikel XIII hatten die siegreichen Alliierten, wie es euphemistisch heißt, die Überführung der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Deutschland „in ordnungsgemäßer und humaner Weise“ beschlossen. Den Jahrestag des Abkommens wollten die vom Koalitionsverbot befreiten Vertriebenenverbände nutzen, um zum ersten Mal bundesweit mit Nachdruck auf das erfahrene Unrecht und ihre außen- und innenpolitischen Forderungen aufmerksam zu machen. Um die Voraussetzungen für die angestrebte große Kundgebung zu verbessern, wurde die Veranstaltung auf das erste Wochenende nach dem 2. August gelegt, dem Datum der Unterzeichnung des Potsdamer Abkommens.

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Die Ereignisse am 5. und 6. August 1950

Annahme, öffentliche Proklamation, Unterzeichnung und Feier der Charta waren bis ins Detail geplant. Jeder der vier mit Bedacht und in bewusster Reihenfolge geplanten Schritte folgte einer ausgeklügelten Dramaturgie. Die Inszenierung zielte auf eine symbolische Erhöhung des Inhalts und damit auf die erhoffte breite nationale und insbesondere internationale Wirkung der Charta.

Am 5. August 1950, einem Samstag, begann um 17 Uhr vor rund 1000 geladenen Gästen im Großen Kursaal in Stuttgart-Bad Cannstatt die feierliche Bundestagung des ZvD. Die VOL erscheinen weder in der Einladung noch im ausgelegten Programm als Mitveranstalter. Das verstärkte Orchester der Künstlergilde Esslingen, eine Vereinigung vertriebener Kunstschaffender, eröffnete das Treffen mit der Fest-Ouvertüre von Albert Lortzing. Begleitet vom Orchester trug dann der Singkreis Oberkochen das Lied „Dort im tiefen Böhmerwald“ vor. Der Landesvorsitzende des ZvD, Karl Mocker, begrüßte anschließend die geladenen Vertreter der Bundesregierung und Landesregierung, der Stadt Stuttgart sowie der Kirchen und Vertriebenenverbände.

Anders als geplant, verkündete anschließend nicht Linus Kather die Charta. Die VOL hatten dagegen Einspruch erhoben. Sie wollten dem Vorsitzenden des ZvD kein Vorrecht und schon gar nicht den von ihm und seiner Organisation begehrten Alleinvertretungsanspruch zugestehen. Daher erfolgte die Verlesung durch den Oberschlesier Manuel Jordan. Als Ergebnis eines Kompromisses zwischen ZvD und VOL mutierte er analog zum „unbekannten Soldaten“ zum „unbekannten namenlosen Vertriebenen“ und damit zum Symbol für die Masse der Millionen von Vertriebenen, für die er die Charta stellvertretend verlas.

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Adenauer und die offene Flüchtlingsfrage

Entgegen der gedruckten Einladung eröffnete dann nicht der Bundeskanzler die Reihe der drei Ansprachen. Konrad Adenauer hatte vordergründig aus gesundheitlichen Gründen kurzfristig abgesagt. Der eigentliche Grund ist in dem zerrütteten Verhältnis zwischen Adenauer und dem impulsiven Vorsitzenden des ZvD zu sehen, der unter Adenauer nicht Bundesvertriebenenminister geworden war, und die sich seit der Gründung der Bundesrepublik dramatisch zuspitzende „Flüchtlingsfrage“, also vor allem über die Verteilung der Lasten. Sie sollte sich auch bei dieser Kundgebung lautstark äußern. An Stelle von Adenauer sprach Vizekanzler Franz Blücher (FDP). Er bezeichnete die Charta „als aktive Tat von außerordentlicher Bedeutung“.

Doch damit und mit der Betonung des politischen Willens der Bundesregierung, eine wirtschaftliche und politische Ordnung zu schaffen, die allein eine Grundlage für die Wiedervereinigung Deutschlands bilden könne, traf er nicht die Erwartungen der Versammlung. Blüchers Rede wurde häufig durch Gelächter und Protestrufe unterbrochen. Größeren Anklang fanden die Ansprachen des Vertriebenenvertreters des ZvD, Linus Kather, und des Sprechers der VOL, Ottomar Schreiber, der von 1949 bis 1953 Staatssekretär im Bundesvertriebenenministerium war. Mit dem bewusst an das Ende des Treffens gesetzten Choral „Heilige Heimat“ schloss die Festveranstaltung.

Die öffentliche Bekanntgabe der Charta

Nach dem Auftakt am 5. August folgte tags darauf der zweite Akt, in seiner Bildmächtigkeit der Höhepunkt der Veranstaltung: die massenwirksame öffentliche Bekanntgabe der Charta. Sie erfolgte am gleichen Tag in einer ganzen Reihe von Städten des Bundesgebietes, unter anderem in München, Frankfurt am Main sowie Hamburg und hatte überall einen vorgeschriebenen einheitlichen Ablauf. Die zentrale Veranstaltung war aber jene in Stuttgart. 

Als bildstarke Kulisse hatte man den Platz in der Mitte Stuttgarts vor den Ruinen des Neuen Schlosses gewählt. Mindestens 70 000 Teilnehmer fanden sich zu der Großveranstaltung ein, es war das Ergebnis gezielter und breit gestreuter Werbung. Die in Sonderzügen und Bussen aus dem gesamten Bundesgebiet Angereisten versammelten sich zunächst auf vier Plätzen. Von dort zogen sie in einem Sternmarsch zum Schlossplatz. Über der Tribüne leuchtete eine große Karte von Deutschland. Darauf waren die abgetrennten oder unter fremder Verwaltung stehenden Ostgebiete des Deutschen Reiches in schreiendem Rot markiert. Auf der Karte stand in großen Lettern der Schriftzug „Fünf Jahre Potsdam“, mit dem die Beschlüsse der Konferenz von 1945 angeprangert wurden. Ihm entsprachen die Transparente auf dem voll gedrängten Schlossplatz: „Gebt uns unsere Heimat wieder“, „Weg mit Jalta und Potsdam“, „Wir rufen das Weltgewissen“.

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Forderung nach Gerechtigkeit

Die Veranstaltung begann mit einem „Gedenken an die Toten“. Ein Sprecher zählte die Opfergruppen unter den Vertriebenen auf. Als das Orchester das von Friedrich Silcher vertonte Gedicht „Der gute Kamerad“ von Ludwig Uhland spielte, wuchs die Menge zu einer „tief betroffenen, schluchzenden Trauergemeinde“ zusammen. Anschließend begrüßte der Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart, Arnulf Klett, die Versammelten. Er gab dann dem Innenminister des Landes Württemberg- Baden und SPD-Mitglied Fritz Ulrich das Wort. Ulrich wandte sich vehement gegen die Auffassung, die Vertreibung der Deutschen sei eine Sühne für die „von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen“.

Zudem betonte er, man könne „Schandtaten […] nie mit Schandtaten wiedergutmachen“, weshalb die Vertriebenen auch nicht Rache, sondern Gerechtigkeit forderten. Er sicherte zu, die Landesregierung werde alles tun, die Vertriebenen als gleichberechtigte Bürger einzugliedern. Nach den beiden Ansprachen verlas der „namenlose und unbekannte Vertriebene“ die Charta. „Atemloses Schweigen“, so ein Pressebericht, habe sich dabei über die Versammlung gelegt.

Spannung entstand, als anschließend der Bundesvertriebenenminister Hans Lukaschek sprach. Mit seinem Hinweis, der Tag der Heimkehr werde nur dann kommen, wenn die Vertriebenen in der westdeutschen Bevölkerung aufgegangen seien, löste er in der Versammlung Missmut aus. Die Rede wurde häufig durch Zwischenrufe unterbrochen. Linus Kather reicherte mit seinem Eingehen auf eine Reihe ungelöster sozialpolitischer Fragen und mit einer unverhohlenen Drohung an die Adresse der Bundesregierung „die gewittrige Atmosphäre mit neuem Zündstoff an“. Pfui-Rufe und Proteste an die Adresse von Bundesfinanzminister Fritz Schäffer waren die Folge, dessen Rücktritt die Menge forderte.

Unterschriften im Staatsministerium, Fest des Wiedersehens auf dem Killesberg

Nach Abschluss der Kundgebung mit der öffentlichen Verkündung der Charta folgte in den frühen Nachmittagsstunden des 6. August der dritte Akt der Veranstaltung. Er fand in kleinem Rahmen und mit handverlesenen Gästen statt. Das Stuttgarter Staatsministerium hatte „aus Anlass der Bundestagung des Zentralverbandes der vertriebenen Deutschen“ in die Villa Reitzenstein geladen. Im Kuppelsaal des Amtssitzes der Landesregierung lagen zwei Urschriften der Charta aus. Sie wurden von den anwesenden Vertretern des ZvD und der VOL unterschrieben, ohne dass damit alle 30 Unterschriften vorgelegen hätten, die heute auf dem Dokument zu finden sind. Einem Vertrag gleich, war für jede der beiden Vertriebenenorganisationen je ein Exemplar der Charta bestimmt.

Anschließend begrüßte Justizminister Josef Beyerle in Vertretung des erkrankten Ministerpräsidenten Reinhold Maier die geladenen Gäste, darunter Vizekanzler Blücher, Bundesvertriebenenminister Lukaschek, Staatsminister Theodor Bäuerle und Landtagspräsident Wilhelm Keil. In seiner Tischrede unterstrich der Vizekanzler den „großen sittlichen Mut“, den die Vertreter der Vertriebenen mit der Charta unter Beweis gestellt hätten. Zugleich warb er dafür, die Vertriebenen sollten bei ihren berechtigten Forderungen die Not des gesamten Volkes nicht aus den Augen verlieren.

Das Veranstaltungsprogramm fand in einem Volksfest seinen vierten und letzten Akt und einen gemütlichen Ausklang. Das Treffen auf der „Deutschen Gartenschau“ auf dem Killesberg begann um 16 Uhr und war wie die Großkundgebung für die große Masse der Vertriebenen gedacht. Der Süddeutsche Rundfunk stellte das Fest unter den vieldeutigen Titel „Brücke zur Heimat“. Größen der Unterhaltungsbranche aus dem Kreis der Vertriebenen und aus dem süddeutschen Raum waren Teil des Programms. Der Andrang auf dem Killesberg war gewaltig. In vielen Fällen wurde das Treffen in Stuttgart zu einem Fest des Wiedersehens.

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Das „Recht auf Heimat“ als der zentrale Inhalt der Charta

In ihrem Aufbau einer Urkunde vergleichbar, gliedert sich die Charta in drei Teile. Der erste Teil, das Protokoll, nennt die Grundlagen für das Dokument – „Verantwortung vor Gott“, die „Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis“, „das Bewußtein ihres deutschen Volkstum“ und „die Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker“ –, und führt die Aussteller des Dokuments – „die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebener“ – sowie die Zielgruppe der Erklärung – „dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit“ – an.

Der anschließende Text, der Hauptteil des Dokuments, spezifiziert die Art des Dokuments – „eine feierliche Erklärung“, ein „Grundgesetz“ der deutschen Heimatvertriebenen –, formuliert das Ziel des Dokuments – „die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas“ – und benennt die damit verbundenen Pflichten und Forderungen der Vertriebenen.

Auf die Außenpolitik zielen der mit lediglich einem vagen Verweis auf die Ursachen des von Deutschland ausgelösten Zweiten Weltkriegs als „ernst und heilig“ bezeichnete „Verzicht auf Rache und Vergeltung“, die Unterstützung aller Bemühungen zur „Schaffung eines geeinten Europas“ sowie die Bereitschaft, die eigenen Kräfte beim „Wiederaufbau Deutschlands und Europas“ einzusetzen. Die Verpflichtungen gipfeln in dem Verweis auf die von den deutschen Vertriebenen erfahrene Trennung von der Heimat in der Forderung, das „Recht auf die Heimat“ als eines „der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit“ anzuerkennen und zu verwirklichen. Nicht der Verzicht auf Rache und Vergeltung, sondern das „Recht auf die Heimat“ ist das zentrale Anliegen der Charta. Das wird mit der grafischen Hervorhebung deutlich zum Ausdruck gebracht.

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Integration der Heimatvertriebenen

Diesen Anliegen stehen solche gegenüber, die eine auf die Bundesrepublik gerichtete innenpolitische Zielrichtung haben. Mit dem „brüderlichen Zusammenleben mit allen Gliedern unseres Volkes“ ist die damals noch nicht einmal in Ansätzen verwirklichte Eingliederung der Heimatvertriebenen gemeint. Daher fordert die Charta für die Vertriebenen „gleiches Recht als Staatsbürger“ vor dem Gesetz und in der Wirklichkeit, einen gerechten Lastenausgleich, den „sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen“ in die westdeutsche Wirtschaft und, gleichsam einer eigenen staatlichen Vertretung, die Beteiligung der Vertriebenen als eigenständige Gruppe am Wiederaufbau Europas.

Der Hauptteil des Dokuments endet mit dem die eigene Opferperspektive herausstreichenden und absolut gesetzten Hinweis der deutschen Heimatvertriebenen „als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“. Er ruft von diesem ausschließlich selbstbezogenen Opferstatus dazu auf, das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie das aller Flüchtlinge als ein Weltproblem zu betrachten, das einer Lösung bedarf, „damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.“ Es folgen abschließend die Datierung des Dokuments – 5. August 1950 – und die eigenhändigen Unterschriften von 30 Vertretern des ZvD und der VOL, von denen die ersten am 6. August 1950, die restlichen erst einige Monate später geleistet wurden.

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Historischer Kontext und Deutung

Die Charta wurde fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verkündet und unterzeichnet. Dessen Ursachen, Ergebnis, Folgen und seine damalige Deutung durch Vertreter der Vertriebenen bestimmten den Zeitpunkt, die Formulierung, die Art der Forderungen und die zeitgenössische Rezeption der Charta. Im Jahr ihrer Verabschiedung war der Kalte Krieg in vollem Gang. Genannt seien nur der Ausbruch des Korea-Kriegs am 25. Juni 1950 und das am 6. Juni 1950 abgeschlossene Görlitzer Abkommen, in dem die DDR und die Volksrepublik Polen die „Oder-Neiße-Linie“ als Grenze anerkannten. Der am 9. Mai 1950 verkündete Schumann-Plan leitete erste Schritte zur europäischen Einigung ein. Die Bundesrepublik war ein gutes Jahr alt und aufgrund des Besatzungsstatuts nur eingeschränkt souverän. Die erste Bundesregierung amtierte noch kein Jahr und hatte bislang keine befriedigende Antwort auf die Flüchtlingsfrage gefunden.

Das Lastenausgleichsgesetz und das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz waren noch nicht verabschiedet, mit der Folge, dass sich der vom Koalitionsverbot befreite, organisatorisch in sich zersplitterte „fünfte Stand“ nun politisch lautstark artikulierte. Bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein am 9. Juli 1950 errang der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) fast ein Viertel der Stimmen und wurde mit einem Abstand von nur vier Prozent zur SPD zweitstärkste politische Kraft. Dieser außen- und innenpolitische Kontext bestimmte den Inhalt der Charta.

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Friedliches Fordern nach Gerechtigkeit

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ist die erste öffentliche Willensbekundung der Vertriebenenorganisationen vor dem Hintergrund der skizzierten fragilen internationalen, europäischen und deutschen Nachkriegsverhältnisse. Sie konnte weder den erbitterten Machtkampf zwischen den beiden Vertriebenenverbänden und ihrer leitenden Funktionäre noch die erheblichen Spannungen zwischen der Bundesregierung und einem Teil der Vertriebenenvertreter überdecken. Mit dem Anspruch, für die Vertriebenen zu sprechen, wird eine Einheit der Vertriebenen als Gruppe beschworen, die so nie eingelöst werden konnte.

Die Charta richtet sich in Sprache und Inhalt im Rahmen des zeittypischen, auf die Angehörigen der eigenen Nation eingeschränkten bundesdeutschen Opferdiskurses an die Weltöffentlichkeit und an das deutsche Volk. Im Mittelpunkt steht die Forderung nach dem theologisch begründeten „Recht auf die Heimat“. Die Charta ist daher in erster Linie – und, ganz wichtig, in dieser Reihenfolge – die Forderung nach einer international anerkannten Rechtsnormsetzung. Erst auf der so geschaffenen Grundlage sollte dann in einem zweiten Schritt nach Wegen gesucht werden, das Recht auf Heimat praktisch umzusetzen.

Dem Recht auf Heimat sind die beiden zentralen Anliegen der Charta zugeordnet. Mit dem gewählten Zeitpunkt, dem Ablauf der Stuttgarter Veranstaltung und den inhaltlichen Aussagen ist die Charta einerseits eine Antwort auf „Potsdam“, das Symbol für Umsiedlung, Flucht, Vertreibung und territoriale Verluste. Sie beinhaltet einen hoch einzuschätzenden „Verzicht auf Rache und Vergeltung“. Er ist, anders als die einleitend zitierten Einschätzungen glauben machen wollen, eine Absage an Gewalt und befürwortet eine Lösung auf allgemein anerkannten rechtlichen Grundlagen. Das unterstreicht auch die verwendete Terminologie. Mit dem Begriff „Charta“ wird ganz bewusst auf die Atlantik-Charta von 1941, die Charta der Vereinten Nationen von 1945 und die UN-Charta der Menschenrechte von 1948 Bezug genommen. Mit ihren Forderungen nach rechtlicher Gleichheit der Vertriebenen als Staatsbürger der Bundesrepublik, nach einem Lastenausgleich und der wirtschaftlichen Eingliederung ist die Charta andererseits ein Spiegel des 1950 noch ungelösten deutschen Flüchtlingsproblems.

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Zwischen Recht auf die Heimat im Osten und Lebensrecht im Westen

Mit ihrer heilsgeschichtlich begründeten, an die Weltöffentlichkeit gerichteten Forderung, „das Recht auf die Heimat“ als Menschenrecht anzuerkennen, und dem an die Bundesrepublik gerichteten Verlangen nach Eingliederung bewegt sich die Charta im Spannungsfeld von Rückkehr in die alte und Eingliederung in der neuen Heimat: Heimatrecht im Osten und Lebensrecht im Westen. Die Charta als eine zeitgebundene, auf das eigene Leid fixierte politische Willensbekundung der Vertriebenen offenbart das Dilemma, vor dem die Lösung des deutschen Flüchtlingsproblems zu jenem Zeitpunkt stand: Ein Recht einzufordern, das nicht zu verwirklichen war, und zugleich das Hineinwachsen in eine fremde, ihnen anfangs vielfach feindselig gegenüberstehende Gesellschaft, die ungewollt und in einem langfristigen Prozess zur neuen Heimat wurde. Erst im Laufe der Jahre und in dem Maß, in dem der europäische Integrationsprozess voranschritt, wuchs der Charta die Deutung als zukunftsweisendes Dokument der europäischen Einigung zu, als das sie heute interpretiert werden kann.

Das zeigen auch die Reaktionen auf die Ansprache von Bundeskanzler Helmut Kohl am 5. August 1990 aus Anlass der Feier zum 40. Jahrestag der Verabschiedung der Charta. Vor dem Hintergrund des Falls des Eisernen Vorhangs 1989 und der bevorstehenden deutschen Vereinigung bekräftigte er im geschichtsträchtigen Großen Kursaal von Stuttgart-Bad Cannstatt die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze. Der Bundeskanzler verwies zudem auf das „große Unrecht“ der Vertreibung und erinnerte an das damit verbundene Leid der Heimatvertriebenen. Er bezeichnete die Anerkennung der Grenze als Vorbedingung für die deutsche Wiedervereinigung. Damit erntete er heftigen Widerspruch. Seine Rede wurde immer wieder von Zwischenrufen unterbrochen. Darauf antwortete der Bundeskanzler mit dem Verweis, dass aus den Erfahrungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt werden müsse. Nur wenn Grenzen unumstritten seien, verlören sie ihren trennenden Charakter.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich die eingangs angeführten Einschätzungen als vom zeitgenössischen Kontext losgelöste rückblickende Deutungen, die mehr über den Standpunkt ihrer Autoren aussagen, als dass sie dem Text der Charta gerecht werden. Damals, im Jahr 1950, standen die eigenen Opfer und die existentielle Frage im Vordergrund, wie aus Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen Bürger der Bundesrepublik werden können. Es überrascht daher nicht, dass beim insgesamt betrachtet mäßigen zeitgenössischen Echo in den Medien auf die Verabschiedung der Charta in erster Linie die Eingliederungsforderungen Beachtung fanden.

Nicht über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen zu sprechen, sondern diese vom Text ausgehend aus ihrer Zeit heraus zu deuten und deren sich wandelnder Deutung und Wirkung nachzugehen, lohnt sich. Dann entdeckt man ein historisches Dokument, das seine Aktualität nicht verloren hat, und einen baden-württembergischen Erinnerungsort mit bundesdeutscher Ausstrahlung – allerdings mit nach wie vor umstrittener politischer Deutung.

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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