Der Bodensee – Deutungsgeschichten eines grenzüberschreitenden Gedächtnisortes

Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

Räumlich liegt der Bodensee alles andere als im Zentrum Baden-Württembergs. Im Gegenteil – mit seiner Lage im Südosten des Landes an der (und als) Grenze zu den Nachbarländern ist er aus solcher Sicht genauso Peripherie wie der Kaiserstuhl, die Ostalb oder das Tauberland. Im eigentlichen Sinn zum See hin orientiert ist nur ein kleiner Teil des Landes, jene Gebiete, deren Alltags- und Wirtschaftsleben von der Lage am See bestimmt sind oder mit diesem zumindest in engerer räumlicher Beziehung stehen.

Im symbolischen Sinn ist die Reichweite des Bodensees und der angrenzenden Region freilich eine ganz andere. Da reicht der See, wenn man so sagen will, weit ins Herz des Landes hinein – historisch, aber auch was den jungen Südweststaat anbelangt. Denn Gedächtnisorte zeichnen sich gerade durch das Ineinander von konkreten und imaginären Dimensionen aus. Das macht „den See“ und die Vorstellungen, die man sich von seiner Bedeutung gemacht hat und macht, zu einem guten Beispiel für die vielfältige und wechselhafte Rolle, die Landschaften im Identitätshaushalt von Staaten und Gesellschaften zukommen kann.

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Autor: Bernhard Tschofen

Der Text von Bernhard Tschofen erschien unter dem Titel „Der Bodensee – Deutungsgeschichten eines grenzüberschreitenden Gedächtnisortes“ in dem „Baden-Württembergische Erinnerungsorte“ anlässlich des 60. Jahrestages von Baden-Württemberg. Darin werden 51 Erinnerungsorte Baden-Württembergs vorgestellt.

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Der See als Gemeinschaftsbesitz der Anrainerstaaten

Das Konzept der Gedächtnisorte, wie es der französische Historiker Pierre Nora in den 1980er-Jahren formuliert hat und wie es seither zu einem festen Begriff europäischer Geschichtskultur geworden ist, ist von Anfang an offen formuliert gewesen. Es hat längst nicht nur konkrete Orte oder historische Stätten umschlossen, sondern sich auch auf Ereignisse, Mythen und Kunstwerke bezogen. Dabei verwies es aber stets auf Kristallisationspunkte des Nationalen, auch wenn diese – wie etwa im Fall von historischen Schlachten oder umkämpften Grenzen – als Schnittstellen zu anderen Erfahrungsgemeinschaften fungierten. Nicht allein aufgrund der historischen Genese des Denkens in Erinnerungsorten mag es daher etwas ungewöhnlich erscheinen, ein naturräumliches Element und die mit diesem verbundene Landschaft in eine solche Perspektive zu rücken – noch dazu, wenn diese Landschaft wie im Fall des Bodenseeraums in ihrem Umriss bewegliche Konturen besitzt und aufgrund ihrer Grenzlage keine eindeutige Zugehörigkeit reklamiert werden kann.

Doch genau diese Merkmale scheinen Sichtbarkeit und Stellung des Bodensees im Landesgedächtnis geformt zu haben und seine Aktualität und Aktivität als Erinnerungsort auch laufend zu erhalten. Denn mit dem See verbinden sich weniger abgeschlossene oder hochgehaltene Kapitel baden-württembergischer Geschichte. Vielmehr bietet er eine sehr unterschiedliche Lebensbereiche berührende Bühne für die Verhandlung der Beziehungen untereinander im Land selbst und in Bezug zu den Nachbarn oder zu übergeordneten historischen wie politischen Räumen. Dass sich in diese Verhandlungen, die – wie zu zeigen sein wird – auch ganz alltäglicher, nahezu banaler Natur sein können, immer wieder tiefgründende Argumentationsmuster, Bilder und Erfahrungen mengen, mag mit ein Grund sein für die vielfältigen Anschluss- und Erneuerungsfähigkeiten des baden-württembergischen Bodenseebildes. Damit besitzt dieses eine Bandbreite, die vom Stichwort Klassenfahrt bis zum Begriff Stauferzeit reicht und mit Fastnacht und Barock, Obst und Wasserversorgung sowohl farbenfrohe Rituale als auch alltägliche Güter umschließt.

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Zentrum und Peripherie in Bewegung: reale und symbolische Bande

Wenn man die Raumbeziehungen zwischen dem Bodenseegebiet und den anderen Regionen Baden-Württembergs ins Auge fasst, dann drängt sich zunächst ein oftmals überlastetes Verkehrsnetz ins Bild, das mit A 81, A 7 bzw. A 96, B 30, B 31 und B 32 und anderen für die Verbindung mit den übrigen Landesteilen sorgt und bei dem viele weniger an Schlagadern der regionalen Ökonomie denken als an Ferienstraßen. Das historische Wort des „Schwäbischen Meeres“ bekommt dadurch eine nochmals etwas anders konnotierte Bedeutung. Es markiert den Raum über sein hauptsächliches Einzugsgebiet und lässt an eine Beziehung denken, die der des Großraums Paris zum Mittelmeer über die französischen Autobahnen A 6 und A 7 nicht unähnlich ist. Auch sonst ist die Seeregion vor allem als Freizeitregion präsent. Ihr überdurchschnittliches Vorkommen im Wetterfernsehen – mit dem Blick über den See oder einem am Ufer stehenden Wetterreporter – spricht dafür.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Künstlerin Monika Drach bei der Suche nach dem Verbindenden in der Region gerade auf das Wetter als Metapher der räumlichen und sozialen Kohärenz gestoßen ist. Auch über solche bildliche Vermittlung stellt sich Beziehung her. Mögen früher die radial vom See nach den staatlichen Zentren führenden und bis heute vernachlässigten Eisenbahnlinien die Bewohner von Friedrichshafen, Konstanz, Lindau oder Bregenz an Stuttgart, Karlsruhe, München oder Wien haben denken lassen und auf diesem Weg staatliche Zugehörigkeit in Erinnerung gerufen haben, so wird in einer zusehends freizeit- und erlebnisorientierten Gegenwart laufend die positiv besetzte Peripherie in die kollektive Bilderwelt gerückt.

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Die poetische Landeskunde Gustav Schwabs

Das ist nicht unwichtig für das Ankommen des mehrstaatlichen Bodenseeraums im gemeinsamen Gedächtnis des jungen Südweststaates. Doch verfügt der See in dieser Hinsicht über eine große Tradition. Bereits mit seiner Entdeckung in der Zeit der Romantik um 1800 deckt er nicht nur das zeitgenössische Bedürfnis nach dem dichten Nebeneinander naturräumlicher Schönheiten und kulturlandschaftlicher Vielfalt, sondern steht mit seinen Städten und Ansitzen auch für einen gemeinsamen historischen Sehnsuchtsraum jenseits territorialer oder gar nationalstaatlicher Grenzen. Als Gustav Schwab 1827 sein im Haupttitel „Der Bodensee nebst dem Rheinthale von St. Luziensteig bis Rheinegg“ genanntes Handbuch für Reisende und Freunde der Natur, Geschichte und Poesie vorlegte, hatte er einen geschichtlichen Raum im Auge, der von den wechselnden Einflusssphären weltlicher, kirchlicher und später auch bürgerlicher Herrschaft gebildet wurde und in dessen Zentrum der See lag.

Angelegt und auch gedacht war der Band aber ganz aus der Warte der württembergischen Kernlande, wo wohl ganz zu Recht das hauptsächliche bürgerliche Publikum für einen solchen Band vermutet worden war. Schwabs Blick auf die Landschaft ist jener bis heute dominierende, der vom Norden kommend den See sucht und dabei die Distanzen zwischen den Siedlungszentren am Neckar und dem Amphitheater des Sees als lästige und zu übersehende Notwendigkeit begreift:

Der Reisende, der eine volle Tagfahrt durch die fruchtbaren, aber einförmigen und nur selten und schwach auf- und absteigenden Kornebenen Oberschwabens verloren hat, sehnt sich nach einer Abwechslung.

Schwab führt „den Wanderer absichtlich den langweiligsten Weg“, um den sich dann auftuenden Blick bestmöglich in Szene setzen zu können:

Hier soll er zum erstenmale den Spiegel des großen Landsees erblicken, dem eine frühere Zeit den prächtigen Namen des schwäbischen Meeres zu ertheilen pflegte, hier wird er den Blick ungehemmt über die Hesperidengärten seiner Ufer schweifen, von Dorf zu Dorfe, von einem Städtethurm zum andern, begleitet von den herrlichsten Erinnerungen der Geschichte fliegen und ihn endlich auf den ewigen Mauerzinnen der Eisgebirge ruhen lassen,

so Schwab in seinen Schilderungen. Auch in den später in der stil- und blickprägenden Reihe „Das malerische und romantische Deutschland“ herausgegebenen „Wanderungen durch Schwaben“ schlägt Schwab für seine Bodenseereise Orte und Wege vor, die dieser Art von poetischer Landeskunde ein eigenes Konzept von Raum und Zeit unterlegen. Es geht ihm um die locker erzählte und mit eigener Dichtung pointierte Präsenz des Historischen in der Landschaft, wobei besonders die über den engeren Raum hinausreichende vaterländische Geschichte aufbereitet wird. Nun sind es bereits die verkehrsgünstig mit den Zentren verbundenen und später touristisch besonders signifikanten Kultur- und Geschichtsstätten, denen die Aufmerksamkeit gilt, die aber ohne Unterschied staatlicher Zugehörigkeit in einer grenzüberschreitenden Landschaft zusammengedacht werden.

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Ein grenzüberschreitender Kulturraum: historische Prägungen und wechselnde Erzählungen

Ohne hier die touristische Geschichte des Bodensees ausführlicher referieren zu können, lässt sich seine Bedeutung als Gedächtnisort nicht ohne jenes Wechselspiel von Fremd- und Selbstbild begreifen, das durch den Fremdenverkehr seit dem 19. Jahrhundert in Bewegung gesetzt worden ist und das bis heute die Repräsentationen der Region prägt. So ist beispielsweise auffällig, wenngleich vermutlich quantitativ gegenüber dem Kurtourismus négligeable, in welchem Maße die literarische Auseinandersetzung mit dem Raum sich diesem eingeschrieben hat und bis heute einen literarischen Tourismus geschehen lässt.

Die durch den Germanisten und „Nibelungen- Steckenreiter“ Freiherr von Laßberg in den 1830er-Jahren romantisch nobilitierte Alte Burg Meersburg war so ein Ort, oder auch das von der Dichterin Annette von Droste- Hülshoff, Laßbergs Schwägerin, 1843 erworbene, doch von ihr nie bewohnte „Fürstenhäusle“, das schon bald nach ihrem Tod zum Ziel literarischer Pilgerfahrten wurde und noch vor seiner Widmung als Museum dementsprechend adaptiert worden war.

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Der Ausflugs- und Fremdenverkehr als Wissensvermittler

Doch auch fernab eines engeren Kunst- und Literaturtourismus – der sich übrigens heute trefflich mit den raumgreifenden Techniken des Radreisens und Wanderns verbinden lässt – wirkt der Ausflugs- und Fremdenverkehr an den See seit jeher als Wissensvermittler, als Schwungrad der Reproduktion einmal in Umlauf gesetzter Bilder. Er trägt damit unter anderem dazu bei, dass die symbolischen Beziehungen zwischen dem Land und dem See an seinen südöstlichen Grenzen sich immer wieder im Konkreten erfahren lassen. Wenngleich für solche Zusammenhänge und vor allem ihre gegenwärtige Bedeutung noch weitgehend die empirischen Daten fehlen, genügt oft ein Blick auf die Kennzeichen der auf den Parkplätzen am Bodensee geparkten Autos, um eindeutige Raumkonvergenzen feststellen zu können. Gerade mit Blick auf die prominenten Kulturerbestätten – man denke an das Pfahlbautendorf in Unteruhldingen oder die Klosterinsel Reichenau – lässt sich feststellen, dass sie für viele Bewohner Baden-Württembergs und für unterschiedliche Generationen Ort unwiederbringlicher Erlebnisse waren.

Auch abseits simpler Burgenromantik kommen so Ausflügler und Reisende mit Dingen und Orten in Berührung, die ihre Vorstellungen von der Vergangenheit – hier der Steinzeit und des Mittelalters – nachhaltig formen und wohl auch fortwährend mit dem Raum verknüpfen. „Mental Maps“, also innere Landkarten, die im Rahmen eines Tübinger Projekts im Jahr 2008 zur grenzüberschreitenden Regionalität abgefragt worden sind, demonstrieren dies. Und sie zeigen über den konkreten Verweis hinaus, wie sehr der See selbst die mentalen Landkarten des deutschen Südwestens (und wohl auch Vorarlbergs und der angrenzenden Schweizer Kantone) dominiert: Ist einmal der Bodensee auf einer Karte gleich welchen Ausschnitts identifiziert, weiß man sich hier zu verorten und zu orientieren.

Erinnerungsorte – oder in unserem Fall besser: Gedächtnisräume – sind freilich keineswegs allein durch ihre historische Bedeutung markiert. Auch der Bezug zu den natürlichen Qualitäten des Raums kulturalisiert diesen und formt Beziehungen und Identitäten. Wenn der verdiente Bodensee-Historiker Herbert Berner einmal mutmaßen musste, dass die hohe Präsenz auswärtiger Bootseigner und Wohnungseigentümer für die Ausbildung einer gemeinsamen Bodensee-Identität eher hinderlich sein mag, dann hat er dabei vielleicht übersehen, dass gerade die intensiven Naturerfahrungen, wie sie viele in Baden-Württemberg mit dem Bodenseeraum verbinden, auch ein hohes Maß an Identifikation ermöglichen – und damit vielleicht auch ein Engagement für den Erhalt seines natürlichen Erbes.

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Trinkwasserspeicher und „Seegfrörne“: Naturerfahrung als Verstärker kultureller Werte

Naturwerte und Ökologie, damit ist jedenfalls das zweite Signum genannt, für das der Bodensee in der Wahrnehmung durch die baden-württembergische Öffentlichkeit gerade in den Jahrzehnten seit der Gründung des Landes steht. Auch in dieser Hinsicht ist die symbolische Beziehung für mehrere Millionen Menschen ganz konkret und materiell unterlegt: durch ihren Anschluss an die 1954 initiierte Bodensee-Wasserversorgung. Blickt man in historischen Schnitten in die Wochenendbeilagen der seefernen Zeitungen des Landes, dann sind es nicht allein Kultur- und Wirtschaftsthemen, die dem Bodenseeraum regelmäßig öffentliche Aufmerksamkeit gewähren. Gerade der Konnex Wasser und Bodensee schafft es neben den saisonalen Berichten zur Schifffahrt (Fährbetrieb, Sternfahrt, „Weiße Flotte“) immer wieder auf die überregionale mediale Bühne.

Historisch – und daran wird dann bei Jubiläen auch immer wieder erinnert – gilt der Bau der Wasserversorgung als eine jener Maßnahmen, die den wirtschaftlichen Aufstieg des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg begleiteten und ermöglichten. Das hat ihn zu einem Symbol des Wiederaufbaus gemacht, aber der Bau hat als solches eben auch eine Verbindung zwischen den ehemals badischen, württembergischen und hohenzollerischen Gebieten des Landes hergestellt. Kein Wunder also, dass die Androhung und dann auch (sich als harmlos erwiesen habende) Realisierung eines Anschlags durch einen zornigen Landwirt auf die Entnahmestelle bei Sipplingen am Untersee vor einigen Jahren die Öffentlichkeit aufgeschreckt und der Bevölkerung ihre unmittelbare Abhängigkeit von der Wasserqualität des Bodensees in Erinnerung gerufen hat.

Auch in der Geschichte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Bodenseeraum, und damit in der direkten Herleitung heutiger Interregionalität, kommt dem Wasser eine treibende Rolle zu. Es war die 1959 gegründete „Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee – IGKB“, in der die Grundlagen für eine intensivere politische Zusammenarbeit zwischen den Anrainerregionen gelegt worden sind. Motiviert durch die Sorge um die sich damals rapide verschlechternde Wasserqualität des Sees als gemeinsamer Mitte und Ressource, sind so durch Umweltanliegen die Grundlagen für die später durch Gründung der „Internationalen Bodenseekonferenz – IBK“ (1972) erweiterte Kooperation gelegt worden. Zumindest mittelbar steht damit der Einsatz für ökologische Ziele am Beginn der „Euregio Bodensee“ und ihrer heute vielfältigen, nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche berührenden, grenzüberschreitenden Netzwerke und Projekte.

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"Bodenseebewusstsein" und ökologische Bedeutung

Ungeachtet der bis heute andauernden Problematik nationaler Regelungen lässt sich auch von einer nachweisbaren Bedeutung der verschiedenen teils privaten Umweltinitiativen für die Ausbildung eines gemeinsamen Bodenseebewusstseins sprechen. Obwohl primär auf die konkrete Umweltarbeit und ökologische Bildung zielend, leisten Initiativen wie die „Bodensee-Stiftung“ so indirekt auch einen nicht zu übersehenden Beitrag für die Identifikation mit dem Raum.

Ungezählte Schulklassen und Jugendgruppen sind etwa in den vergangenen Jahren am Bodensee nicht nur ausgeschilderten Naturlehrpfaden gefolgt oder haben Kanutouren unternommen, sondern sie haben bei den ornithologischen oder ökologischen Führungen durch das Wollmatinger und Eriskircher Ried auch Einblicke in ihnen sonst nicht zugängliche Ökosysteme gewinnen können, die sie vermutlich nachhaltig mit dem Bodensee in Verbindung bringen werden. Wie populär Umweltthemen vom Bodensee medial arrangiert sein können, mag die Tatsache belegen, dass der seit Jahren zwischen Naturschützern und Fischern schwelende sogenannte Kormoranstreit sowohl den Stoff für einen Bodensee-„Tatort“ als auch die Vorlage zu einem Computerspiel geliefert hat. Auch solcherart vermittelte Bilder rücken Seethemen ins öffentliche Bewusstsein.

Mit dem Wasser und damit mit dem See selbst hat schließlich auch ein Jahrhundertereignis zu tun, dessen Wirkung für das öffentliche Gedächtnis nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die „Seegfrörne“ des Jahres 1963, also das bis dato letzte vollständige Zufrieren des Bodensees, hat sich nicht nur der Region als Erfahrung grenzüberwindender Zusammengehörigkeit eingeprägt, sondern durch die erstmals für dieses Ereignis mögliche massenmediale Verbreitung eine weit über den engeren Raum wirkende Strahlkraft entfaltet. Für Wochen stand damals der Bodensee ganz oben auf der Agenda der Medien; Zeitungen und Rundfunk hielten die Bevölkerung über das Geschehen auf dem Laufenden, und das vor seinem Durchbruch stehende Fernsehen machte mit aktuellen Bildern Appetit auf eigene Teilhabe.

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Tourismus

Die privaten Fotografien als Zeugnisse eigenen Erlebens fanden ihren Weg bis in Karlsruher und Stuttgarter Alben und bestätigten die Einmaligkeit des Geschehens. Am See selbst erinnert in Hagnau ein Gedenkstein an jene jungen Männer, die am 6. Februar 1963 als erste den See überquerten – er ist ein Zeichen für das auch nach außen repräsentierte Geschichtsbewusstsein der Anwohner und dokumentiert die Transformation eines Naturereignisses zu einem Marker gemeinsamen Erbes.

Ereignisse wie die „Seegfrörnen“, die die Aufmerksamkeit auf den Raum und seine Besonderheiten lenken, sind selten. Aber in der Moderne bedarf es auch nicht mehr unbedingt eines authentischen Geschehens, um eine Bühne für die Verständigung über Zusammengehörigkeit und „kleine Differenz“ zu finden. Der Bodensee bot dafür schon lange ein gutes Forum – und dies nicht nur im oben etwas ausführlicher be- Seit bald zwei Jahrhunderten unter Dampf und lange in zwischenstaatlicher Konkurrenz. Am See zeigten die Anrainerstaaten im wahrsten Sinne Flagge – Baden und Württemberg nicht nur mit eigenen Dampferflotten, sondern mit Ludwigshafen und Friedrichshafen auch mit Hafengründungen und Stadtumbenennungen. Heute wird der Saisonstart der „Weißen Flotte“ grenzüberschreitend mit der „traditionellen Sternfahrt“ begangen. 320 Bernhard Tschofen – Der See handelten Tourismus, der früh dafür gesorgt hat, dass sich an Schiffsanlegestellen, in Gaststuben und später auch in Naturfreundehäusern und auf Campingplätzen Badener und Württemberger (und andere) begegnen konnten, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede mehr oder weniger humorvoll zu verhandeln.

Im Tourismus haben sich aber zuerst konkrete materielle Räume gebildet, in denen solches Programm war: Man denke etwa an die in kaum einer Bodenseestadt fehlenden historistischen Weinstuben mit ihren Ansichten und Wappen aus den Anrainerländern. Sie kommunizierten gerade im Zeitalter der Nationalstaaten einem bürgerlichen (und wohl auch häufig vaterländisch gestimmten Publikum) subtil das Verbindende der historischen Landschaft.

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Das Erlebnis der Region: Wissenstransfer im Konsum- und Unterhaltungsformat

Die jüngere Zeit hat für ähnliche Funktionen andere Räume und Formate gefunden. Sie besitzen oftmals eine deutlich virtuelle Dimension, aber immer mit einer bewusst betonten Bodenhaftung in der Region. Auffällig ist zum Beispiel, dass selbst ein nach globaler Logik gestalteter Erlebnispark wie das „Ravensburger Spieleland“ beispielsweise mit einer „Schwäbischen Eisenbahn“ und einer Traktorfahrt durch Obstgärten, Hopfenreben und Äcker etwas von der Region vermitteln will und sich – wenn man so will – des kulturökologischen Arguments bedient. Mit einem „Bauernhof “ und einem „Dorfladen“ macht der zwischen Ravensburg und dem Bodensee situierte Vergnügungspark zudem Region quasi unmittelbar konsumierbar.

Auf vergleichbare Effekte, aber auf andere Adressaten setzen die seit bald sechs Jahrzehnten ausgestrahlten Hafenkonzerte „Gruß vom Bodensee“ des SWR. Sie besitzen eine treue Fangemeinde unter den Freunden volkstümlicher Musik und bedienen sich – im Verbund mit einem System gastgebender Partnergemeinden – eines „Land und Leute“-Formats, das neben Musik und Unterhaltung am (sehr) frühen Sonntagmorgen kulturelle Besonderheiten rund um den See zu kommunizieren versucht.

Lange Jahre stand das Hafenkonzert für den grenzüberschreitenden Medienraum Bodensee. Heute, nach dem vor einigen Jahren erfolgten Ausstieg des Österreichischen Rundfunks, ist es zu einer deutsch-schweizerischen Gemeinschaftsproduktion in einem zusehends milieuspezifischen Unterhaltungssegment geworden. Dennoch kann das Hafenkonzert als Beispiel für die mediale Produktion und Distribution verbindender Bilder über den Bodensee fungieren, zumal es „Heimat“-Werte der Region einem größeren Publikum zugänglich macht und so zur kulturellen Markierung des Raums beiträgt.

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Die schwäbisch-alemannische Fastnacht

Ähnliche Bedürfnisse im Einzugsgebiet des SWR bedienen die Übertragungen von der südwestdeutschen Fastnacht. Auch sie bieten unterhaltend aufbereitetem Kulturerbe überlokale Bühnen. Der Bodensee bildet dabei freilich nicht den einzigen, aber einen wichtigen Brennpunkt der Einschreibung von Traditionen der (zumeist katholischen) Peripherie in das staatliche Gedächtnis. Heute fast so etwas wie der „Landesbrauch“ schlechthin und ein in der öffentlichen Repräsentation selbstverständlich eingesetztes gemeinsames Kulturerbe des Südwestens, ist die Fastnacht ein hervorragendes Beispiel für die Spuren, welche wissenschaftliche Deutungen in der kulturellen Praxis zu hinterlassen imstande sind.

Die Verbindung des Bodensees mit den Vorstellungen der unverwechselbaren Traditionen eines als „schwäbisch-alemannisch“ ausgelegten Brauchkomplexes hat diesem einen zusätzlichen Weg in die Identitätspolitiken und -praktiken Baden-Württembergs geebnet. Das liegt nicht zuletzt an den integrativen Potenzialen der Fastnacht, die nach 1945 im Südwesten alte Herrschaftsgrenzen und zusehends auch konfessionelle und soziale Hürden zu überwinden halfen. Beobachtet man etwa die alljährlichen Verhandlungen des „Hohen Grobgünstigen Narrengerichts zu Stockach“, dann fällt auf, dass die via Fernsehen übertragenen Rituale und Sprechakte gerade durch die ständige Ironisierung badisch-schwäbischer Gegensätze auch einen gemeinsamen Verständigungsraum herstellen.

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Entgrenzung: der See als Sinnbild historischer Größe und Motor künftiger Entwicklung

Wenn hier der Akzent bewusst nicht auf die Ereignisse und Monumente der „grande histoire“ gelegt worden ist, sondern die alltägliche Dimension kulturellen Gedächtnisses in der Vordergrund gerückt worden ist, dann sollte damit nicht der Eindruck erweckt werden, es handelte sich dabei um eine weitgehend politik- und ideologiefreie Angelegenheit. Dennoch wird die Reichweite der Ideen oft überschätzt.

Die Ergebnisse der jüngeren gedächtnisorientierten Forschung zu Nation und Region zeigen, dass die Vorstellungen von Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit immer dort am tiefgreifendsten wirksam werden, wo sie nicht allein von staatlichen Institutionen getragen, sondern auch in alltäglichen Erfahrungen aktualisierbar werden. So bilden die beschriebenen Orte und Rituale gewissermaßen das populäre Pendant zu den theoretischen Entwürfen einer von der „goldenen Schale“ des Bodensees ausgehenden Zusammengehörigkeit. Nicht ganz zufällig entfalteten bereits im 19. Jahrhundert neben dem 1868 gegründeten „Verein für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung“ die Sängerfeste, also der durchaus massentaugliche Kontakt im musikalischen Bereich, die größte Wirkung in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

Gerade im Zeitalter der Nationalstaaten konnte der See immer wieder zur Projektionsfläche politisch motivierter Kulturkritik werden. Das hat lange seine Anziehungskraft für die kulturellen Eliten verstärkt und diesen zum Ausgangspunkt (oftmals historisch begründeter) Visionen gemacht. So nützt etwa der populäre Reiseschriftsteller J. C. Heer 1892 die Schilderung einer Ballonfahrt des legendären Kapitäns Spelterini – und die aus der Vogelschau nicht erkennbaren Grenzen im Bodenseeraum – für seine Kritik der Verhältnisse. Hermann Hesses nach dem Ersten Weltkrieg verfasstes Alemannisches Bekenntnis zählt heute zu den am meisten zitierten Belegen der Einheit des Raums:

Darüber hinaus fand ich mich mit zunehmenden Jahren immer unentrinnbarer getrieben, überall das, was Menschen und Nationen verbindet, viel höher zu werten als das, was sie trennt. Im Kleinen fand und erlebte ich das in meiner natürlichen, alemannischen Heimat. Daß sie von Landesgrenzen durchschnitten war, konnte mir, der ich viele Jahre dicht an solchen Grenzen lebte, nicht verborgen bleiben. Das Vorhandensein dieser Grenzen äußerte sich nirgends und niemals in wesentlichen Verschiedenheiten der Menschen, ihrer Sprache und Sitten, es zeigten sich diesseits und jenseits dieser Grenze weder in der Landschaft noch in der Bodenkultur, weder im Hausbau noch im Familienleben merkliche Unterschiede. Das Wesentliche der Grenze bestand in lauter teils drolligen, teils störenden Dingen, welche alle von unnatürlicher und rein phantastischer Art waren: in Zöllen, Passämtern und dergleichen Einrichtungen mehr.

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„Bodenseeleitbild"

Nach 1945, als die Zukunft des Südweststaats noch in den Sternen stand, sah der Historiker und Archivar Otto Feger aus Konstanz den Bodensee wenn nicht im Zentrum, dann doch als historisch-kulturellen Gravitationsraum eines von ihm entworfenen „Alemannenstaats“. Das sind nur Beispiele für die vielen Varianten, die von der Erzählung eines grenzüberschreitenden Kulturraums Bodensee existieren. Das damit verbundene Wissen – wenngleich es sich in vielem als historischer Mythos erwiesen hat – ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten nicht ohne entsprechende Aktualisierung und Adaptierung in die politische Praxis eingeflossen.

In seinem Grundton bestimmt es das „Bodenseeleitbild“ von 1994, das von einem „traditionellen Kulturraum mit einer lange Zeit gemeinsamen Geschichte“ spricht. Und es legitimiert auch – wenngleich aktuell nicht mehr mit dem Anspruch der Konstruktion einer singulären gemeinsamen Identität – die Förderpolitik der Europäischen Union in der Region. Die Strukturen, welche heute hier wie anderswo das Leben in den Regionen durchwirken, mögen mithin zwar auf einem kollektiven Trugbild gründen. Die beweglichen Definitionen des Bodenseeraums und die flexiblen Grenzziehungen im Alltag bestätigen aber auch, dass Sinn und Präsenz von Gedächtnisorten sich selbst im Zeitalter globaler Entgrenzung erst in und durch Praxis bestätigen.

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Überblick: Erinnerungsorte in Baden-Württemberg

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